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© Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e. V.
Letzte Aktualisierung: July 2025

Praxisleitfaden Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS)

Sowie entsprechende Verlaufsformen des Long-COVID- bzw. Post-COVID-Syndroms

Wissenschaftliche Leitung: Dr. Herbert Renz-Polster
Autor*innen: Dr. Herbert Renz-Polster, Dr. Monika Dräger und das Team der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS e. V.

Dieser Leitfaden ist für die allgemeinmedizinische Praxis gedacht und behandelt:

  • ME/CFS nach allen Auslösern inklusive SARS-CoV-2-Infektion

  • ME/CFS-ähnliche Verläufe eines Long- oder Post-COVID-Syndroms

Für die Diagnostik und Therapie weiterer Long-/Post-COVID-Verläufe:

→ AWMF S1-Leitlinie Long/ Post-COVID - Living Guideline
→ AWMF S2k-Leitlinie COVID-19 und (Früh-) Rehabilitation

In Kooperation mit dem

Charité Fatigue Centrum der Charité Berlin

Das komplette Dokument inklusive Dosisschemata ist nur für Fachpublikum mittels DocCheck-Logins zugänglich.
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Klinische Präsentation und Diagnose

Grundlagen zum Krankheitsbild ME/CFS

Neuroimmunologische Erkrankung (ICD-10 G93.3), seit 1969 von der WHO als neurologische Erkrankung klassifiziert.

  • Pathomechanismus: Chronische Multisystemerkrankung mit erst teilweise verstandenem Pathomechanismus. Erforscht und belegt sind u. a. Dysregulation des Immunsystems und des autonomen Nervensystems, Störungen des mitochondrialen Stoffwechsels und eine pathologische Homöostase nach körperlicher Belastung.

→ Merke: Gemäß aktueller Evidenz, Leitlinien und WHO-Klassifizierung handelt es sich nicht um eine psychogene Erkrankung.

Pathophysiologische Veränderungen bei ME/CFS

  • Dysregulation des zentralen und autonomen Nervensystems

  • Dysregulation des Immunsystems inklusive Autoimmunität

  • Dysregulation des kardiovaskulären Systems

  • Endotheliale Dysfunktion

  • Perfusionsstörung des Gehirns und der Muskulatur

  • Anzeichen von Neuroinflammation

  • Dysregulation des Stoffwechsels und Störungen der mitochondrialen Energiegewinnung inklusive Fragmentierung der Mitochondrien

  • Reduzierte anaerobe Schwelle und Sauerstoffextraktion aus Geweben bei körperlicher Belastung

  • Veränderungen des Darmmikrobioms

  • Schädigung dünn myelinisierter und/oder unmyelinisierter Nervenfasern

  • Reaktivierungen latenter Viren

  • Prävalenz: Mit einer präpandemischen Prävalenz von bis zu 0,42 % (Jason et al. 1999) ist ME/CFS bereits vor der Pandemie keine seltene Erkrankung gewesen (mindestens so hohe Prävalenz wie Multiple Sklerose). Präpandemisch wurden für Deutschland bis zu 310.000 betroffene Erwachsene und bis zu 90.000 Kinder geschätzt (IQWiG-Bericht 2023); postpandemisch über 500.000, da 10 – 20 % der Post-COVID-Betroffenen das Vollbild von ME/CFS entwickeln (Vernon et al. 2025; Peter et al. 2025). Hohe Dunkelziffer ist aufgrund unzureichender Kenntnisse zu Erkrankung und Diagnosekriterien in der Breite der Versorgung anzunehmen.

  • Altersverteilung: In präpandemische Studien zweigipflig: 10 – 19 Jahre; 30 – 39

  • Geschlechtsverteilung: weiblich/männlich = 3/1

  • Dauer bis zur Diagnose: Deutschland 6 – 7 Jahre, Österreich 5 – 8 Jahre (30 % > 10 Jahre), Schweiz ~ 7 Jahre

  • Auslöser: > 60 % nach Infekt (z. B. EBV, Influenza, SARS-CoV-2) aber auch nach physischen Traumata, Geburt und Schwangerschaft, HWS-Verletzung, Impfungen. In < 30 % ist der Auslöser anamnestisch nicht eruierbar.

ME/CFS-Krankheitsverläufe, basierend auf anonymer Online-Befragung der Norwegischen ME-Vereinigung, ermittelt aus den Berichten 5.724 Betroffener in Norwegen (T. Schei et al. 2021). Die Dicke der Linien verdeutlicht den prozentualen Anteil. Englische Zusammenfassung der Studie und Quelle der Abbildung → hier.
  • Verlauf: Beginn nach auslösendem Ereignis, zeitversetztes Auftreten von Symptomen möglich, seltener schleichende Entwicklung. Schweregrad und Krankheitsverlauf können fluktuieren. Progrediente Verschlechterung, schubförmig remittierende Verläufe sowie progrediente Besserungen sind möglich. Zeitweilig können teils schwere und langanhaltende Zustandsverschlechterungen hinzutreten (meist im Rahmen von Post-Exertioneller Malaise (PEM)). Neue Symptome des Symptomkomplexes können im Verlauf dazu kommen.

  • Prognose: Chronische Erkrankung. Vollständige Remissionen bei Erwachsenen selten (3 – 6 % mit Diagnose gemäß NICE 2007). Remissionen vorwiegend in den ersten Jahren der Erkrankung, danach selten. Bei Kindern und Jugendlichen günstigere Prognose: Bis zu 50 % Remissionen bei mittlerer Krankheitsdauer von 5 Jahren berichtet. ABER: 5 % nach 10 Jahren noch schwer krank.

  • Fam. Prädisposition/Genetik:  Familiäre Häufungen berichtet, genetisch prädisponierende Faktoren in Literatur beschrieben, humangenetische Diagnose nicht möglich, keine monogenetische Erkrankung.

  • Schweregrade:  Vier Schweregrade: mild (ca. 25 % der Pat.), moderat (ca. 50 %), schwer und sehr schwer (ca. 25 %). Ausführliche Informationen siehe Abschnitt → Schweregrade und Bell-Score.

Darstellung der Schweregrade von ME/CFS nach NICE Guidelines 2021. Abbildung der DG.ME/CFS.
Grafische Darstellung der Lebensqualität von ME/CFS-Betroffenen nach Hvidberg et al. 2015. Abrufbar unter Daten & Fakten — Deutsche Gesellschaft für ME/CFS

Krankheitslast

Erhebliche Auswirkungen auf Lebensgestaltung und Teilhabe. Erkrankung selbst „milden“ Schweregrades bedeutet gemäß CCC- und IOM-Kriterien „erhebliche“ Funktionseinschränkungen, gemäß ICC-Kriterien einen Verlust von 50 % des Aktivitätsniveaus vor Erkrankung.
Durchschnittliche Lebensqualität teilweise niedriger als bei Schlaganfall, Herzinsuffizienz oder Krebs (s. folgende Abb.). Über 60 % arbeitsunfähig, ca. 25 % haus- oder bettgebunden.

Wichtige praktische Ressourcen

Weiterführende Literatur:

H. Renz-Polster, C. Scheibenbogen (2022): Post-COVID-Syndrom mit Fatigue und Belastungsintoleranz: Myalgische Enzephalomyelitis bzw. Chronisches Fatigue Syndrom. https://doi.org/10.1007/s00108-022-01369-x

C. Scheibenbogen et al. (2023): Myalgische Enzephalomyelitits/Chronisches Fatigue-Syndrom: Interdisziplinär versorgen. Dtsch Arztebl 2023; 120(20): A-908 / B-780

H. Renz-Polster, W. Broxtermann, U. Behrends (2022): Chronische Erschöpfung bedeutet nicht, einfach nur müde zu sein. Pädiatrie 2022; 34 (3)

K. Hoffmann et al. (2024): Interdisziplinäres, kollaboratives D-A-CH Konsensus-Statement zur Diagnostik und Behandlung von Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom. https://doi.org/10.1007/s00508-024-02372-y

S. Grach et al. (2023): Diagnosis and management of myalgic encephalomyelitis / chronic fatigue syndrome. https://doi.org/10.1016/j.mayocp.2023.07.032

ME/CFS und SARS-CoV-2-Folgeerkrankungen: Begriffsdefinitionen und Subgruppen

Subgruppen innerhalb des Post-COVID-Syndroms (PCS) gemäß AWMF S1-Leitlinie:

  1. Patient*innen, die wegen COVID-19 intensivmedizinisch behandelt wurden und an einem post intensive care syndrome (PICS) leiden,

  2. Patient*innen, die in Folge einer SARS-CoV-2-Infektion mit zeitlicher Latenz an Folgekrankheiten wie z. B. kardiovaskulären Komplikationen, kognitiven Leistungsstörungen oder einer psychischen Störung erkranken,

  3. Patient*innen mit Symptomen, die meist nicht durch eine zugrundeliegende Erkrankung erklärt werden und häufig mit einer Fatigue-Symptomatik und Belastungsintoleranz mit/ohne Dyspnoe und neurokognitiven Störungen („Brain Fog“) einhergehen,

  4. Patient*innen mit Exazerbation einer bereits fachspezifisch versorgten Grunderkrankung.

Laut Meta-Analyse weisen 55 % aller PCS-Betroffenen drei Monate nach SARS-CoV-2-Infektion PEM auf (An et al. 2024). Bis zu 10 – 20 % aller PCS-Betroffenen entwickeln das Vollbild ME/CFS (Vernon et al. 2025; Peter et al. 2025). In der Subgruppe 3 sammeln sich unterschiedliche Krankheitsverläufe, u. a. unkomplizierte postinfektiöse Rekonvaleszenzverläufe mit spontaner Besserungstendenz („postvirale Fatigue“). Bis zu 50 % dieser Subgruppe entwickelt das Vollbild ME/CFS (Kedor et al. 2022) und erfüllt nach 6 Monaten Krankheitsdauer die Diagnosekriterien. Wegen der teilweisen symptomatischen Überlappungen kann die Abgrenzung zeitweilig schwierig sein.

Darstellung der Subgruppen des Post-COVID-Syndroms und deren Bezug zu ME/CFS. Abbildung der DG.ME/CFS.

Begriffsdefinitionen und Subgruppen: ME/CFS, Long COVID, Post-COVID-Syndrom, Post-VAC-Syndrom, PAIS, postvirale Fatigue

  • ME/CFS: Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom; Eigenständige Krankheitsentität (ICD10 G93.3) mit klar definierten klinischen Diagnosekriterien. Tritt in > 2/3 der Fälle postinfektiös nach einer Vielzahl von Erregern auf und etwa bei 10 – 20 % aller PCS. Weitere (nichtinfektiöse) Auslöser sind z. B. HWS-Trauma, Schwangerschaft, Impfungen.

  • Long COVID (LC): Über 4 Wochen anhaltende Symptome nach SARS-CoV-2-Infektion (Definition AWMF S1-Leitlinie). Englisch auch post-acute sequelae of COVID-19 (PASC).

  • Post-COVID-Syndrom (PCS):  Über 12 Wochen (bei Kindern und Jugendlichen über 8 Wochen) anhaltende Symptome nach SARS-CoV-2-Infektion (Definition AWMF S1-Leitlinie).

  • Post-VAC-Syndrom (PVS): synonym Post-Vakzine-Syndrom, Post-VAC, Post-Vakzinierungssyndrom, engl. auch post-COVID-19 vaccination syndrome (PCVS) (keine Leitlinien-Definition vorhanden): Long COVID und/oder ME/CFS ähnelnde, teils auch identische Symptomatiken, die in seltenen Fällen nach Impfung gegen SARS-CoV-2 auftreten können.

  • PAIS: Post-acute infection syndromes, deutsch post-akute Infektionssyndrome. Überbegriff für eine ganze Reihe von chronischen Syndromen, die nach diversen Erregern (viral, bakteriell oder parasitär) auftreten können. Betroffene können die Diagnosekriterien für ME/CFS erfüllen.

  • Postvirale Fatigue: Eine prolongierte Fatigue nach viralen Infekten, die auch mit anderen Symptomen einhergehen kann, aber nicht die Diagnosekriterien von ME/CFS erfüllt.

Diagnosekriterien

Aktuelle Diagnosekriterien:

  • Die kanadischen Konsensuskriterien (CCC) umfassen mehr Symptome und haben sich vorrangig in der Forschung etabliert.

  • Die Kriterien des Institute of Medicine (IOM) sind weniger umfangreich und wurden für die Praxis entwickelt, sie schließen zwei- bis dreimal so viele Pat. ein.

Sowohl die CCC- als auch IOM-Kriterien sind im Rahmen der G-BA Versorgungsrichtlinie und der AWMF Leitlinie „Müdigkeit“ (Kap. 5.7 ME/CFS) für die Praxis empfohlen.

Diagnosekriterien:  CCC und IOM-Kriterien im Vergleich. Abbildung der DG.ME/CFS in Anlehnung an Scheibenbogen et al. (2023) in Die Ärztliche Begutachtung

Die ME/CFS-Diagnosekriterien wurden im Verlauf der letzten Jahrzehnte an den aktuellen Kenntnisstand zum Krankheitsbild angepasst und weiterentwickelt.

→ Merke: Veraltete Diagnosekriterien (z. B. Fukuda-Kriterien) berücksichtigen nicht das Leitsymptom PEM und weisen dadurch eine unzureichende Trennschärfe zu anderen Erkrankungen wie etwa Fibromyalgie auf. Es besteht das Risiko falsch-positiver Diagnosen. Sie sollten deshalb nicht mehr angewandt werden.

Leit- und Kernsymptome

ME/CFS ist ein eigenständiges Krankheitsbild mit klar definierten klinischen Diagnosekriterien, basierend auf einem vorgegebenen Symptomkomplex. ME/CFS ist NICHT mit dem Symptom „chronische Fatigue“, das auch bei anderen Erkrankungen auftreten kann, gleichzusetzen.

  • Die Symptomatik kann individuell variieren, d. h. einzelne Symptome des Symptomkomplexes können von Pat. zu Pat. unterschiedlich stark ausgeprägt sein.

  • Die Symptome dürfen durch keine andere Erkrankung hinreichend erklärbar sein.

  • Die Symptome müssen bei Erwachsenen mindestens 6 Monate (gemäß NICE-Leitlinie mindestens 3 Monate), bei Kindern und Jugendlichen mindestens 3 Monate bestehen.

→ Merke: Das Leitsymptom der Erkrankung ist die Post-Exertionelle Malaise (PEM).

Kernsymptome der Erkrankung werden sowohl in den IOM- als auch CCC-Kriterien als Pflichtkriterien genannt. Die CCC-Kriterien sind umfangreicher und fordern zusätzlich auch das Vorliegen von Nebenkriterien. Siehe hierzu auch → Diagnosekriterien.

Übersicht von Leit-, Kern- und Nebensymptomen des Symptomkomplexes von ME/CFS (ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Abbildung der DG.ME/CFS basierend auf IOM- und CCC-Kriterien.

Post-Exertionelle Malaise (PEM) – Leitsymptom der Erkrankung

Leitsymptom und für eine Diagnose zwingend erforderlich ist das Vorliegen einer Post-Exertionellen Malaise (PEM), einer im Anschluss oder bis zu 48 h (ggf. bis zu 72 h) nach Aktivität zeitversetzt eintretende langanhaltende Zustandsverschlechterung (Tage/Wochen, ggf. dauerhaft!).

→ Merke: PEM ist eine pathologische Reaktion des Organismus auf muskuläre, kognitive, sensorische und emotionale Aktivität sowie auf orthostatische Belastung.

Sie geht mit nachweisbaren pathobiologischen Veränderungen u. a. in Stoffwechsel und Muskulatur einher.

→ Achtung: Sport, Trainingsprogramme, graduelle Aktivierungstherapien (GET), Auftrainieren, der Versuch, die Leistungsgrenzen auszuweiten, sind bei ME/CFS kontraindiziert und können zu schweren Nebenwirkungen bzw. zur Verschlechterung des Gesundheitszustandes führen (Quellen: CDC, IQWiG, DEGAM).

Unter PEM können sich bereits bestehende Symptome deutlich verschlechtern oder auch neue Symptome des Symptomkomplexes auftreten. Ein PEM-Schub wird von Betroffenen auch oft als „Crash“ bezeichnet. Die Ursachen von PEM sind derzeit noch nicht vollumfänglich verstanden. Nähere Informationen zu PEM finden sich unter www.mecfs.de/was-ist-me-cfs/pem.

PEM-auslösende Aktivitäten:

  • Können individuell verschieden sein.
    Bei Schwerstbetroffenen kann ggf. schon ein Lagewechsel im Bett oder ein Lichtreiz zu PEM führen, während einige leicht Betroffene ggf. noch (in Teilzeit) arbeiten können und es erst durch zusätzliche Belastungen, z. B. Spaziergang oder Familienfeier, zu einer PEM kommt.

  • Können sich im Krankheitsverlauf ändern.

    So kann z. B. Duschen in einer Erkrankungsphase PEM auslösen, in einer anderen aber toleriert werden.

  • Aktivitäten können sich summieren. Die Summe aus einzeln (noch) nicht überlastenden Aktivitäten kann zu PEM führen, z. B. Duschen oder Wäsche Aufhängen wird toleriert, aber beides am selben Tag führt zu PEM.

  • PEM kann durch muskuläre, kognitive, sensorische und emotionale Aktivität (Eustress und Disstress) sowie orthostatische Belastung ausgelöst werden.

Übersicht charakteristischer Symptome, die im Rahmen von PEM auftreten/sich verschlechtern können. Quelle: Grach et al. Mayo Clin Proc. October 2023;98(10):1544-1551

Weiterführende Literatur:

Petter et al. (2022): Muscle sodium content in patients with myalgic encephalomyelitis / chronic fatigue syndrome. https://doi.org/10.1186/s12967-022-03616-z

Haunhorst et al. (2024): Towards an understanding of physical activity-induced post-exertional malaise: Insights into microvascular alterations and immunometabolic interactions in post-COVID condition and myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome. https://doi.org/10.1007/s15010-024-02386-8 

Moore et al. (2023): Exercise in Persons with Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS). https://doi.org/10.3390/medicina59030571

Germain et al. (2022): Plasma metobolomics reveals disrupted response and recovery following maximal exersice in myalgic /encephalomyelitis / chronic fatigue syndrome. https://doi.org/10.1172/jci.insight.157621

Fatigue

Die Pat. leiden an einer oft erheblich ausgeprägten Fatigue, die zu substanziellem Leistungsabfall und Einschränkungen in der Alltagsgestaltung führt.

Die Fatigue

  • ist neu aufgetreten,

  • ist nicht anderweitig erklärbar (z. B. durch übermäßige Belastung),

  • kann nicht durch übliche Erholung oder durch Schlaf und Ruhe behoben werden.

Die Fatigabilität der Muskulatur kann mittels zweizeitiger Handkraftmessung mit einem Dynamometer auch in der Praxis objektiviert werden (s. → Weitere Diagnostik).

Die kognitive Fatigabilität kann durch in kurzem zeitlichen Abstand (bis zu 24 h) wiederholten neurokognitiven Testungen nachgewiesen werden, die jedoch außerhalb von Studien kaum Anwendung finden.

Unerholsamer Schlaf

Betroffene leiden an teils ausgeprägten Schlafstörungen. Dies können Ein- und Durchschlafstörungen bis hin zu einem gestörten Tag-Nacht-Rhythmus sein. Die Gesamt-Schlafdauer kann deutlich erhöht sein. Schlaf ist unerholsam und führt nicht zur Regeneration. Erkrankte wachen oft „wie gerädert“ auf.

Kognitive Einschränkungen

Unter Betroffenen hat sich der Begriff „Brain Fog“ etabliert, der ein „vernebeltes“, verlangsamtes, zähes Denken beschreibt. Betroffene berichten Gedächtnisprobleme. Die Verarbeitung von Informationen z. B. beim Lesen, Zuhören oder „Multitasking“ ist beeinträchtigt und/oder das Verstehen von Zusammenhängen ist gestört. Häufig treten Wortfindungsstörungen und eine verwaschene Sprache auf. Betroffene „verlieren“ im Gespräch oft „den Faden“.

Die zugrunde liegenden kognitiven Einschränkungen sind in der erweiterten neuropsychologischen Testung objektivierbar. Die am häufigsten erfassten Störungen sind eine reduzierte Verarbeitungsgeschwindigkeit, Aufmerksamkeitsstörungen, Störungen des Arbeitsgedächtnisses und der Lerneffizienz. Charakteristisch ist eine Verschlechterung der kognitiven Fähigkeiten bei zeitlich versetzt wiederholter Testung oder nach längerem Gespräch aufgrund der einhergehenden kognitiven Belastung. Die Intensität der Beschwerden kann tagesabhängig und situationsbedingt fluktuieren.

Orthostatische Intoleranz (OI)

Orthostatische Intoleranz (OI) beschreibt die Unfähigkeit des Körpers, den Kreislauf an den Lagewechsel in eine aufrechtere Position – ob stehend oder sitzend – anzupassen. Der Kreislaufanpassungsstörung liegt eine Dysfunktion der autonomen Steuerung bzw. Gefäßregulation mit verminderter ZNS-Durchblutung zugrunde.

  • Symptome: Schwindel, Herzrasen, Palpitationen, Übelkeit, Schwäche, Benommenheit, gesteigerter Durst, Atemnot, Engegefühl in der Brust, thorakale Schmerzen (oft links), Atemnot, Fatigue, Konzentrationsstörungen, Schwindel und Synkopen sowie ggf. Kopfschmerzen, Migräne oder Nackenschmerzen.

  • Orthostatische Belastung kann PEM auslösen.

  • Bei manchen Betroffenen kann ein posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom (PoTS) oder eine orthostatische Hypotonie (OH) als charakteristische Ausdrucksformen einer OI nachgewiesen werden.

→ Merke: Der Ausschluss von PoTS oder OH (eigenständige dysautonome Krankheitsentitäten) schließt das Vorliegen einer OI nicht aus.

Schmerzen

Häufig besteht eine ausgeprägte Schmerzsymptomatik (Pflichtkriterium gemäß CCC, kein Pflichtkriterium gemäß IOM):

  • Starke, neu aufgetretene Kopfschmerzen, oft auch migräneartig

  • Muskelschmerzen, oft mäandernd beschrieben, bereits in Ruhe oder nach leichter Belastung

  • Glieder- und Gelenkschmerzen, ohne Entzündungszeichen

  • Neuropathische Schmerzen inkl. Parästhesien

Weitere häufige Begleitsymptome

Neurokognitiv:

  • Ausgeprägte sensorische Reizsensibilität v. a. gegenüber Geräuschen und Licht, in schweren Fällen auch gegenüber Berührungen oder Gerüchen

  • Störungen der Bewegungskoordination

  • Muskelschwäche und Faszikulationen

Autonom/orthostatisch:

  • Belastungsdyspnoe

  • Darm- und Blasenfunktionsstörungen

Immunologisch:

  • Grippeähnliche Symptome, allgemeines Krankheitsgefühl

  • Wiederkehrende Halsschmerzen

  • Schmerzhafte Lymphknoten

  • Neu aufgetretene Allergien und Unverträglichkeiten, oft auch gegen Nahrungsmittel

Neuroendokrin:

  • Gestörte Anpassung der Körpertemperatur

  • Schwitzen, fiebriges Gefühl

  • Schlechte Verträglichkeit von Hitze und Kälte

  • Kalte Hände oder Füße

  • Verlust der Stress-Adaptation oder Symptomverschlechterung unter Stress 

→ Tipps & Tricks:
Post-COVID-Pat. mit ME/CFS oder ME/CFS-ähnlicher Teilsymptomatik können zusätzliche Symptome aus dem Long-COVID-Spektrum aufweisen (z. B. Anosmie).

Schweregrade und Bell-Score

  • Man unterscheidet vier Schweregrade (IQWiG-Bericht 2023, NICE Guidelines 2021): mild (ca. 25 %), moderat (ca. 50 %), schwer und sehr schwer (ca. 25 %).

  • Ca. 25 % der Patient*innen sind hausgebunden, über 60 % arbeitsunfähig.

  • Schweregradzuordnung nicht immer eindeutig möglich, da Symptome in Schwere und Ausprägung breit variieren können und individuell unterschiedlich einschränkend wirken.

Mild (mild):     

  • Betroffene können meist noch für sich selbst sorgen und leichte Haushaltstätigkeiten noch bewältigen. Manche benötigen hierfür Unterstützung.

  • Pat. können Mobilitätseinschränkungen haben

  • Die meisten sind weiterhin in Beruf oder Ausbildung, müssen dafür aber auf Freizeitaktivitäten verzichten

  • Sie benötigen oft reduzierte Arbeitszeiten und mehr Freizeittage und nutzen das Wochenende zur Erholung, um die Woche zu meistern

Moderat (moderate):

  • Betroffene sind in Mobilität und allen alltäglichen Aktivitäten eingeschränkt

  • Schwankungen der Symptomschwere und möglichen Aktivitätsgestaltung

  • Üblicherweise keine Arbeit oder Ausbildung mehr möglich

  • Erholungszeiten benötigt, oft Nachmittagsruhe über 1 – 2 h

  • Der Nachtschlaf ist gestört und von schlechter Qualität

Schwer (severe):

  • Alltägliche Aktivitäten können nicht mehr selbstständig durchgeführt werden; eigenständig nur minimale Aktivitäten wie Gesichtwaschen oder Zähneputzen möglich

  • Schwerwiegende kognitive Einschränkungen

  • Häufig Rollstuhl nötig

  • Pat. sind unfähig, das Haus zu verlassen, oder erleiden schwere und prolongierte Zustandsverschlechterungen, falls sie dies dennoch tun

  • Oft muss die meiste Zeit im Bett verbracht werden

  • Oft extreme Sensibilität gegenüber Licht und Geräuschen

Sehr schwer (very severe):

  • Betroffene sind den ganzen Tag ans Bett gebunden und pflegebedürftig

  • Unterstützung bei der persönlichen Hygiene und der Nahrungsaufnahme benötigt

  • Extreme Sensibilität gegenüber sensorischen Reizen

  • Gelegentlich schwere Schluckstörung und Sondenernährung erforderlich

Zur Einschätzung der bestehenden Einschränkungen wurde der →Bell-Score (Bell 1995) entwickelt. Dieser dient mit einer Skala von 0 – 100 als Messinstrument der Schwere der durch die Erkrankung hervorgerufenen Einschränkungen.

Stigmatisierung in der Versorgung

Studien zur ärztlichen Wahrnehmung und Erfahrungen von ME/CFS-Pat. im Gesundheitswesen zeigen:

  • Knapp 90 % der Befragten berichteten von überwiegend oder ausschließlich negativen Erfahrungen

  • 88,9 % schilderten ein problematisches Arzt-Patienten-Verhältnis

  • 2/3 der Befragten berichteten von Stigmatisierung bzgl. ihrer Erkrankung

  • Sie gaben an, nicht ernst genommen zu werden, falsch diagnostiziert oder behandelt zu werden und keine Hilfe oder Unterstützung zu erhalten

  • ME/CFS-Erkrankte werden ärztlicherseits deutlich stigmatisierender diskutiert als Erkrankte anderer Erkrankungen mit vergleichbarer Krankheitslast

  • Es konnte eine 4-fach erhöhte Häufigkeit charakteristisch stigmatisierender Beschreibungen bei ME/CFS im Vergleich zu einer anderen potenziell stigmatisierten Erkrankung nachgewiesen werden

Bezüglich der psychischen Belastung von ME/CFS-Pat. wurde gezeigt:

  • Über 90 % der Betroffenen berichteten über fehlendes Verständnis ihrer Erkrankung und dass sie deshalb Gespräche zu ihrer Erkrankung aus Angst vor Unglauben, Trivialisierung oder zur Vermeidung negativer Reaktionen meiden

  • 40 % berichteten von suizidalen Gedanken. Ursächlich für Suizidalität wurden absteigend genannt:

    1. dass ihnen gesagt wurde, die Erkrankung sei ausschließlich psychosomatisch,

    2. dass sie am Ende ihrer Kräfte sind und

    3. das Gefühl haben, von anderen nicht verstanden zu werden. 

→ Merke: ME/CFS-Pat. sind im Verlauf ihrer Erkrankung aller Wahrscheinlichkeit nach bereits mit Stigmatisierung, Unglauben, Fehldiagnosen und mangelnder Unterstützung konfrontiert worden.

Zum Aufbau eines vertrauensvollen Arzt-Patienten-Verhältnisses unter diesen erschwerenden Voraussetzungen kommt es sowohl auf fachliche Kompetenz zum Krankheitsbild als auch auf eine empathische, verständnisvolle Haltung an.

Weiterführende Literatur:

L. Habermann-Horstmeier, L. M. Horstmeier (2024): Die ärztliche Wahrnehmung von ME/CFS-Erkrankten (myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom) als „schwierige Patienten“. https://doi.org/10.1007/s11553-023-01070-3

B. Scoles, C. Nicodemo (2022): Doctors’ attitudes toward specific medical conditions.  https://doi.org/10.1016/j.jebo.2022.09.023

R. S. König et al. (2024): Identifying the mental health burden in Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) patients in Switzerland: A pilot study. https://doi.org/10.1016/j.heliyon.2024.e27031

Diagnostisches Vorgehen

Die Diagnose ME/CFS wird durch klinische Kriterien, klinische Untersuchungen und durch eine ausführliche Differentialdiagnostik gestellt.

Die Diagnose kann laut IOM- und CCC-Kriterien nach 6 Monaten Krankheitsdauer (Erw.) bzw. 3 Monaten (Kinder) gesichert werden. Die NICE-Leitlinie 2021 sieht eine Diagnosesicherung bereits ab 3 Monaten (Erw. und Kinder) vor, sowie die Möglichkeit der Verdachtsdiagnose bereits nach 6 Wochen für Erwachsene und 4 Wochen für Kinder.
Eine möglichst frühzeitige Diagnose kann durch geeignete Therapiemaßnahmen und Lebensgestaltung die Chance für eine Remission erhöhen und Fehlbehandlungen reduzieren.

Daher:

  • Pat. mit Belastungsintoleranz und PEM sollte vorsichtshalber schon vor Sicherung der Diagnose zu konsequentem Energiemanagement (→ Pacing) geraten werden, um weitere Verschlechterung zu verhindern.

  • Vorliegende Komorbiditäten, z. B. PoTS, müssen immer adäquat therapiert werden (unabhängig von der Krankheitsdauer).

Wichtige Ressourcen zu Diagnose und Therapie von ME/CFS

Übersichtsartikel

Leitlinien und Berichte

Richtlinien

  • LongCOV-RL (2024): Versorgungsrichtlinie, die ME/CFS ungeachtet des Auslösers explizit inkludiert

Belastungs- und einschränkungsadaptierte Diagnostik, Telemedizin und Hausbesuche

→ Merke: Jeglicher Ärzt*innenkontakt und Diagnostik muss belastungsadaptiert sein, d. h. an den verbleibenden Kapazitäten der Pat. ausgerichtet werden, um eine Zustandsverschlechterung (PEM) zu vermeiden.

Der Eindruck hinsichtlich des Gesundheitszustands kann täuschen, da die Symptomatik fluktuieren kann und Zustandsverschlechterungen/PEM oft erst nach der Konsultation auftreten. Behandelnde sehen Betroffene meist nur in ihrem günstigsten Zustand, da die Symptomlast in schlechtem Zustand oft keine Vorstellung in Person erlaubt.

Vorgehen:

  • Belastungsadaptiertes Vorgehen ist in der Versorgungsrichtlinie zum Krankheitsbild skizziert (→ LongCOV-RL Mai 2024)

  • Schweregrad ermitteln, um belastungsadaptierten Begleitung zu ermöglichen

  • Fallabhängig Abwägung, wie die individuell notwendige Diagnostik an die individuellen Belastungsgrenzen der Pat. und örtlichen Gegebenheiten optimal angepasst durchgeführt werden kann

  • Differentialdiagnostik den ermittelten Bedürfnissen und Einschränkungen anpassen und ggf. gebündelt im Rahmen eines stationären Aufenthalts durchführen

  • Bei schwerer betroffenen Pat. (hausgebunden, bettlägerig) kann bereits die Vorstellung in der Praxis die individuelle Belastungsgrenze überschreiten. Hier sieht die Versorgungsrichtlinie das Angebot telemedizinischer Versorgung (Online-Sprechstunde) oder von Hausbesuchen vor.

  • Schwerstbetroffene Pat. können in der Regel aufgrund der extremen Reizsensibilität nur sehr eingeschränkt untersucht werden. Gespräche und diagnostische Maßnahmen sind nur sehr begrenzt möglich. Weitere Informationen → Montoya et al. (2021) (in deutscher Übersetzung).

Um die Belastung der Betroffenen in der Praxis zu reduzieren:

  • Wartezeiten möglichst verkürzen

  • Liegemöglichkeiten (oder zumindest Möglichkeit zum Hochlegen der Beine) während der Wartezeit und ggf. auch während der Anamnese anbieten

  • Wenn möglich, einen reizgeschützten (Lichtreduktion, niedriger Geräuschpegel) Raum während der Wartezeit und der Anamnese anbieten

  • Praxispersonal schulen

  • Weitere Hinweise s. → Versorgung in der Praxis

Siehe hierzu auch → Informationsblatt ME/CFS – Diagnose, Behandlung und Hinweise zur Betreuung

Spezialisierte Versorgung:

Praktisches Vorgehen bei V.a. ME/CFS

Erstvorstellung (kurz): Screening und Einordnung

  • Kurzanamnese und Screening auf PEM (→ DSQ PEM)
    Bei gesicherter PEM: über Pacing und erforderliches Energiemanagement aufklären, Infomaterial mitgeben (→ Anleitung Pacing). Ggf. erste entlastende Maßnahmen initiieren (z. B. AU ausstellen).
    Bei Unklarheit, ob PEM vorliegt (und ansonsten klassischer Symptomkonstellation) → DSQ-PEM-Fragebogen, → Aktivitätsprotokoll für Erwachsene bzw. → Aktivitätstagebuch für Kinder zur Erfassung von PEM-Schüben nach Aktivität ausfüllen lassen (z. B. über mindestens 2 – 4 Wochen).

  • Erste Schweregradabschätzung bei V.a. ME/CFS: nach Schweregrad evaluieren, ob telemedizinische Betreuung oder Hausbesuche benötigt werden

  • Fragebögen aushändigen (und zuhause ausfüllen lassen)  → CCC und Bell-Score (kürzer) oder → MBSQ (ausführlicher) und Bell-Score

  • Körperliche Untersuchung

  • Labor zur Differentialdiagnostik der wichtigsten DD

  • Zeitnahe Wiedervorstellung planen

Zweitvorstellung/Wiedervorstellung (zeitintensiv)

  • Ausführliche Anamnese (s. Anamnese)

  • Ausführliche differentialdiagnostische Betrachtung

  • Auswertung der Fragebögen:

    • Diagnosekriterien formal erfüllt? → Ggf. Diagnose stellen und als gesichert codieren

    • Bell-Score bestimmen, Schweregrad bestimmen

  • Komorbiditäten?

  • Psychische Belastung infolge der Krankheit? Diese kann mit dem PHQ-4-Fragebogen orientierend erfasst werden, ist aber in der Regel kein Hinweis auf eine „Störung“, sondern auf eine Reaktion innerhalb der Norm (d. h. eine etwa durchschnittlich zu erwartende Reaktion).

  • Reevaluation, ob Energiemanagement (Pacing) konsequent umgesetzt wird/werden kann. Oft sind weitere Entlastungen nötig.

  • Therapieziele nach am meisten belastenden Symptomen priorisieren

  • Einleitung medikamentöser und nicht-medikamentöser sowie b.B. entlastender Maßnahmen

  • Nach Bedarf ÜW an weitere Fachdisziplinen und, falls vorhanden und benötigt, Spezialambulanz für ME/CFS

  • Ggf. VO von Hilfsmitteln (z. B. Kompression, (Elektro-)Rollstuhl, Duschhocker etc.)

  • Notfallpass ausstellen

Folgevorstellungen

  • Verlaufskontrolle

  • Diagnostische Auswertungen

  • Reevaluierung/ggf. Diagnosesicherung

  • Therapeutische Anpassungen

  • Sozialrechtliche Unterstützung (z. B. Pflegegrad, GdB, Erwerbsminderungsrente)

Anamnese

→ Merke: Ausreichend Zeit einplanen, um die Multisystem-Symptomatik in Gänze zu erfassen. 

  • Längere, konzentrationsfordernde Gespräche führen leicht zu kognitiver Überlastung (bemerkbar durch Wortfindungsstörungen, Konzentrationsstörungen, Gedächtnisstörungen u. ä.). Eine strukturierte Komplettierung der Anamnese ist dann kaum möglich und kann eine Zustandsverschlechterung auslösen Gespräch zu späterem Zeitpunkt fortführen und/oder zur Entlastung der Betroffenen auf telemedizinische Versorgung oder Hausbesuch ausweichen.

  • In schweren Fällen: Fremdanamnese durch versorgende Personen

Zur ME/CFS-spezifischen Symptomabfrage und Auswertung in der Praxis bieten sich folgende Fragebogen-Kombinationen an:

  • Kanadische Kriterien inklusive Bell-Score (→ CCC und Bell-Score), ein relativer kurzer Symptomkatalog. Bei Nutzung dieser Vorlage muss zusätzlich der → DSQ-PEM zur Abfrage von PEM genutzt werden.

oder

  • Munich Berlin Symptom Questionnaire (→ MBSQ), ein ausführlicherer, strukturierter Fragebogen inklusive Auswertungsalgorithmus zur gleichzeitigen Abfrage von CCC- und IOM-Kriterien sowie dem Vorliegen von PEM. Bei Nutzung des MBSQ muss der Bell-Score separat ausgefüllt werden.

→ Tipps und Tricks: Für die Diagnosestellung ist bereits die Erfüllung der IOM-Kriterien ausreichend. Diese sind im MBSQ neben den CCC enthalten.

Inhalt der Anamnese:

  • Hauptbeschwerden?

  • Beginn (plötzlich/schleichend?) und Dauer der Symptomatik

  • Auslösendes Ereignis?

    • Wenn eruierbar, dokumentieren (wichtig für mögliche Versorgungsansprüche und (Abrechnungs)-Codierung z. B. U09.9!)

    • (Jedwede) Impfung als Auslöser? → Meldung PEI

  • Fragen nach den Kernsymptomen:

  • Schweregrad und Bell-Score ermitteln und dokumentieren, s. → Schweregrade und Bell-Score

  • Vorerkrankungen: Andere Grunderkrankung, die die Symptomatik erklären könnte? s. → Differentialdiagnosen

  • Häufige Komorbiditäten vorliegend?

    • Orthostatische Intoleranz? s. → Komorbiditäten

    • Reaktive Depression? Screening mittels → PHQ-4-Fragebogen

    • Allergien: Insbesondere neue Allergien/Nahrungsmittelunverträglichkeiten?

    • Hinweise auf MCAS (Mastzellaktivierungssyndrom)/Histaminintoleranz? s. a. → MCAS/Histaminintoleranz

    • Hashimoto-Thyreoiditis?

  • Familienanamnese: ME/CFS, Fibromyalgie oder andere Autoimmunerkrankungen?

  • Sozialanamnese: Z. B. Unterstützungsmöglichkeiten, familiäre Situation, individuelle Belastungen, die schwer von anderen übernommen werden können (z. B. Alleinerziehende)?

  • Wohnsituation: Treppen? Dusche oder Badewanne?

  • Hilfsmittel und Unterstützung nötig? Z. B. Duschhocker, Rollator/Rollstuhl, Pflegedienst, Haushaltshilfe usw.

Verlaufskontrollen:

  • Krankheitsverlauf? Änderungen Schweregrad und Bell-Score?

  • Neue Symptome aus dem Symptomkomplex? (Im Zweifel diagnostische Abklärung neuer Symptome)

  • Wirkung von Maßnahmen besprechen, effektives Pacing erneut besprechen

  • Krankheitslast und psychische Belastung? Ggf. supportive Psychotherapie notwendig?

  • Weiterer Unterstützungsbedarf (z. B. Atteste, Anträge, koordinierende Gespräche mit Arbeitgeber, Schule etc.)?

Körperliche Untersuchung

Die körperliche Untersuchung kann trotz bestehender ME/CFS-Erkrankung unauffällig sein. Einschränkungen sind mit klinischem Blick und Kenntnissen zu der Erkrankung dennoch – vor allem bei höheren Schweregraden – oft zu erkennen.

  • Gesicht: Augenringe / blasses Hautkolorit / aufgedunsenes Gesicht?

  • Auskultation: Sinustachykardie? → Hinweis auf OI

  • Hautkolorit: Gerötete/livide Extremitäten nach längerem Stand? → Hinweis auf PoTS (Komorbidität)

  • Kalte, kaltschweißige Hände und Füße: → Hinweis auf Durchblutungsstörung, autonome Dysfunktion (Komorbidität)

  • Überstreckbare Gelenke/samtige Haut: → kann Hinweis auf hypermobiles Syndrom (z. B. EDS) sein (Komorbidität)

  • Lymphknotenschwellungen?

  • Subfebrile Temperaturen?

  • Gang: Gangunsicherheit? Zeichen von Schwindel? Zeichen von Muskelschwäche? Ataktische Störungen?

  • Sitzen und Aufstehen: Mühsam? Unsicher? Kraftlos? Zeichen von Schwindel? Zeichen von Benommenheit?

  • Sprache: Verlangsamt? Wortfindungsstörungen? Gedächtnisstörungen? Gestörtes Multitasking? Leicht ablenkbar?

Labor und apparative Untersuchungen

Aktuell stehen noch keine spezifischen Biomarker zur Verfügung, die in der Routinediagnostik angewendet werden können. Untersuchungen dienen

  • der Erfassung ME/CFS-typischer Veränderungen (erhöhte LDH, vermindertes Phosphat, möglicher Hinweis auf eingeschränkte mitochondriale Funktion);

  • dem Ausschluss möglicher → Differentialdiagnosen;

  • der Erfassung charakteristischer Komorbiditäten (Hashimoto-Thyreoiditis);

  • der Behebung möglicher Mangelzustände (häufig Ferritin und Folsäure vermindert).

Basisdiagnostik

Basislabor: 

Diff.-BB, CRP, CK, E’lyte (Na, K, Ca, Phosphat), nüchtern BZ, Ferritin, Folsäure, Vitamin D, Leber-, Nieren- und Schilddrüsen-Werte, TPO-Antikörper und ANA, Urinuntersuchung.

 Bei entsprechenden anamnestischen Hinweisen: IgG, IgA, IgM, Zöliakie-Ak, NT-proBNP.

 → Merke: Das Routinelabor ist häufig trotz bestehender ME/CFS-Erkrankung unauffällig.

 Weitere Laboruntersuchungen und Diagnostik: Erfolgen angepasst an die individuelle Symptomatik. Exemplarisch:

  • Muskel-/Gelenkschmerzen/Autoimmundiathese: Rheumatologische Diagnostik

  • GI-Beschwerden/Nahrungsmittelunverträglichkeiten: Zöliakie-Screening, ggf. Gastro-/Koloskopie bei zusätzlicher Gewichtsabnahme

  • Neu aufgetretene allergische Diathese: allergologische Diagnostik

  • Ausgeprägte Muskelschwäche: AChR-AK

  • V.a. SD-Erkrankung: TPO-AK

  • Sicca-Symptomatik: ENA-Screening, Sjögren-Diagnostik

  • etc.

EKG (ggf. auch LZ-EKG): Kann trotz orthostatischer Intoleranz/PoTS (insbesondere bei niedriger Ruheherzfrequenz) unauffällig sein oder als Sinustachykardie missinterpretiert werden. Der Abgleich mit einem konsequent dazu geführten Aktivitätsprotokoll kann Frequenzspitzen aufgrund von Lageänderung oder geringer kognitiver/muskulärer Aktivität demaskieren. Zur Diagnostik einer OI im Sinne eines PoTS oder einer orthostatischen Hypotonie (OH) immer zusätzlich passiven Stehtest (NASA-Lean-Test) oder Kipptisch-Untersuchung durchführen.  

Passiver Stehtest (NASA-Lean-Test)/Kipptisch-Untersuchung:
Der NASA-Lean-Test dient der Diagnostik eines komorbiden posturalen orthostatischen Tachykardiesyndroms (PoTS) oder einer orthostatischen Hypotonie (OH). Eine Kipptisch-Untersuchung kann alternativ durchgeführt werden.

Benötigt werden eine Liege und ein Blutdruckmessgerät, das in 1-min-Intervallen Herzfrequenz und Blutdruck messen kann. Der Test kann in der hausärztlichen Praxis, aber auch selbstständig zuhause durchgeführt werden. Wichtig ist hierbei, auf eine ausreichende (mind. 5 min) Ruhephase vor Messung zu achten, da die Einstellung einer Ruhefrequenz bei Betroffenen ausreichend Zeit und Ruhe benötigt. Vor allem bei Beschwerden nur an „schlechten“ Tagen bietet sich eine Durchführung zuhause an.
NASA-Lean-Test: ausführliche Anleitung und ein Auswertungsprotokoll 

→ Merke: Ein negativer Stehtest schließt eine orthostatische Intoleranz im Sinne einer zerebralen Minderperfusion bei Aufrichtung nicht aus.

Weitere Diagnostik

Zweizeitige Handkraftmessung
Die zweizeitige Handkraftmessung dient der Erfassung der Fatigabilität (im Sinne einer gestörten Erholungsreaktion) der Muskulatur und kann in der hausärztlichen Praxis durchgeführt werden. Die verminderte Handkraft korreliert mit der Schwere der Erkrankung. Benötigt wird ein Handkraftdynamometer. In kurzzeitigen Intervallen wird die maximale Kraft der dominanten Hand 10 x gemessen und protokolliert. Das Procedere wird nach 1 h wiederholt. Oft ist bereits bei der ersten Messung eine verminderte Handkraft messbar. Verminderte Kraftmessungen in der zweiten Messreihe belegen eine erhöhte Fatigabilität der beanspruchten Muskulatur im Vergleich zu gesunden Proband*innen.
Anleitung und Protokoll zweizeitige Handkraftmessung

Spezifische Autoantikörper:
Antikörper gegen G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (GPCR-AK) sind bei einer Subgruppe der Betroffenen erhöht und mit der Schwere von Symptomen assoziiert. Sie werden vor allem zu Studienzwecken bestimmt. Die Bestimmung erfolgt meist im ELISA-Verfahren. Messergebnisse unterschiedlicher Messverfahren sind nicht vergleichbar. 

  • GPCR-Antikörper exemplarisch ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

    β1-adrenerg, β2-adrenerg, M3-mAChR, M4-mAChR, AT1-R, ETA-R und weitere

→ Merke: Negative GPCR-AK schließen eine ME/CFS-Erkrankung nicht aus. Positive GPCR-AK erlauben alleinstehend keine ME/CFS-Diagnose. Sie können bei anderen Erkrankungen und bei Gesunden auftreten. Die Diagnose erfolgt immer anhand der Diagnosekriterien.

Bildgebung

  • c-MRT bei fokalneurologischen Ausfällen oder gravierenden neurokognitiven Auffälligkeiten.

Neuropsychologische Testung:

  • Bei starken neurokognitiven Einschränkungen erstes Screening mittels MoCA möglich, aber zur Erfassung diffiziler, charakteristischen Einschränkungen (Arbeitsgedächtnis, Verarbeitungsgeschwindigkeit etc.) oftmals nicht sensibel genug

  • Ausführliche neurokognitive Testung: Objektivierung charakteristischer Einschränkungen (sinnvoll für Begutachtungen). Untersuchungsdauer und kognitive Anstrengung können PEM auslösen. Der SDMT ist ein sensitiverer Test zur Erfassung der kognitiven Störungen bei ME/CFS. In einer Studie konnte mit zweizeitiger Anwendung der TAP-Batterie eine Verschlechterung in der zweiten Messung nachgewiesen werden. Dies wurde als Hinweis für eine kognitive Fatigabilität interpretiert.

Validierte oder etablierte diagnostische Fragebögen und Tests

Diagnosekriterien

  • IOM-Kriterien (→ IOM). Kurzer Fragebogen mit nur insg. fünf Fragen zu den Kriterien des Institute of Medicine. Kann bei ME/CFS-spezifischer Anamnese mit Erfragung der IOM-Diagnosekriterien (s. → Diagnosekriterien) ggf. entfallen.

  • CCC-Kriterien (→ CCC), Fragebogen mit kanadischen Konsensuskriterien

oder

  • Munich Berlin Symptom Questionnaire (→ MBSQ für Erwachsene und Kinder), strukturierter Fragebogen zur detaillierteren Symptomabfrage inklusive Auswertungsalgorithmus zur gleichzeitigen Abfrage von CCC- und IOM-Kriterien sowie dem Vorliegen von PEM.

Post-Exertionelle Malaise

  • DSQ-PEM: Screeningfragebogen in Kurzform und in deutscher Übersetzung zur Abklärung von PEM

Orthostatische Intoleranz

  • NASA-Lean-Test zur Diagnose eines PoTS oder einer OH (s. a. → Orthostatische Intoleranz / PoTS (Posturales Tachykardiesyndrom) / Orthostatische Hypotonie)

Fatigue

  • Klassische Fatiguefragebögen sind in der Beurteilung der bei ME/CFS auftretenden Fatigue nur bedingt geeignet, da sie zu Ceiling-Effekten neigen. Das bedeutet, dass der obere Bereich der Skala die Schwere der Einschränkungen bei Vorliegen von ME/CFS nicht sensibel und differenziert erfassen kann. Im Ergebnis erreichen ME/CFS-Betroffene oft Maximalscores.

Fatigabilität der Muskulatur

Dysautonome Störung

  • Der COMPASS-31-Fragebogen ist ein etablierter Fragebogen zur ausführlichen Abfrage dysautonomer Störungen, wie sie oftmals im Symptomkomplex von ME/CFS auftreten. Anwendung z. B. für Gutachten. In der einfachen Diagnostik nicht nötig, wenn in der Anamnese nach Symptomen für orthostatische Intoleranz und andere dysautonome Störungen gefragt wird.

Funktionelle Einschränkungen und Lebensqualitätsverlust

  • Bell-Score: Lang etablierte, ME/CFS-spezifische Skala zur Einschätzung der funktionellen Einschränkungen bei ME/CFS. Der Bell-Score wird auch in AWMF Leitlinien zur Einschätzung einer Reha-Fähigkeit herangezogen und sollte bei allen Pat. bestimmt werden und in größeren Abständen wiederholt abgefragt werden.

  • Funcap 55 und Kurzversion Funcap 27: Neuere, noch nicht etablierte Fragebögen zur differenzierteren Einschätzung des Funktionsstatus. Vor allem bei niedrigem Bell-Score empfehlenswert, da präzisere Auflistung spezifischer Einschränkungen.

  • SF-36: Fragebogen zur Erfassung des Gesundheitszustands. Krankheitsübergreifendes Messinstrument zur Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität ab 16 Jahre (kostenpflichtig). Fragebogen nur bei Bedarf, z. B. für Gutachten sinnvoll.

Psychische Komorbiditäten

  • Es existieren keine validierten Fragebögen zur DD „psychische Erkrankung oder ME/CFS“

  • Klassische (Screening-)Fragebögen für psychische Erkrankungen wie Depressionen oder somatoforme Störungen können zur DD von ME/CFS nicht empfohlen werden, denn sie enthalten in größerer Zahl körpergezogene Items, sodass sie zwischen somatisch und psychosomatisch bedingten Beschwerden nicht unterscheiden können (insb. Fragen zu Energieverlust, Konzentrations- und Schlafstörungen sowie zur Alltagsgestaltung). Das führt im Falle von ME/CFS zu Missinterpretationen und ggf. zu falsch positiven Diagnosen.

  • Empfehlung: Bei Bedarf → PHQ-4-Screeningfragebogen zur orientierenden Erfassung der psychischen Belastung, die als nachvollziehbare Folge der Krankheit nicht den Stellenwert einer eigenständigen Störung haben muss. Siehe hierzu auch → Infoblatt Psychotherapie bei ME/CFS.

Differentialdiagnosen und Komorbiditäten

Differentialdiagnosen

Die Diagnose ME/CFS kann bei Erfüllung der Diagnosekriterien (Positiv-Diagnose) und unter Beachtung einer Differentialdiagnostik anderer Erkrankungen, die die Symptomatik hinreichend erklären, gestellt werden – zusätzlich können aber auch weitere Erkrankungen bestehen.

  • Die Differentialdiagnostik dient der Abklärung weiterer Erkrankungen, die die individuell ausgeprägte Symptomatik hinreichend erklären

  • Zur differentialdiagnostischen Entscheidung insbesondere auf das Leitsymptom der schweren PEM achten

  • Das Ausmaß der erforderlichen Differentialdiagnostik an die verbleibenden Kapazitäten und Einschränkungen der Pat. so weit wie möglich anpassen, um keine Zustandsverschlechterung zu provozieren. Vor allem bei schwer Betroffenen abwägen, welcher diagnostische Aufwand zur Sicherung der Diagnose unbedingt erforderlich ist

  • Schwerstbetroffene Pat. sind aufgrund der massiven Reizsensitivität und Entkräftung kaum transportfähig. ME/CFS-spezifische Symptome sind oft stark und charakteristisch ausgeprägt, was eine Diagnose anhand der Diagnosekriterien erleichtert

  • Bei charakteristischem postinfektiösem Onset plus Vollbild des klinischen Symptomkomplexes ist ME/CFS naheliegend

→ Merke:

  • Eine Diagnose, die alle klinischen Manifestationen und Symptome inkludiert, schließt eine ME/CFS-Diagnose aus

  • Eine Diagnose, die nur einen Teil der Symptomatik erklärt, sollte als vorliegende Komorbidität betrachtet werden

  • Leit- und Kernsymptom einer ME/CFS-Erkrankung ist die schwere bis zum nächsten Tag anhaltende Post-Exertionelle Malaise (PEM)

Mögliche Differentialdiagnosen und Komorbiditäten von ME/CFS (ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Abbildung basierend auf Daten von INESS ME/CFS Management support tool (2023), D-A-CH Konsensusstatement (2024), EUROMENE (2021) und Carmen Scheibenbogen (2020).
Komorbiditäten sind fett und kursiv gekennzeichnet.

Komorbiditäten

Die Kenntnis von häufigen Komorbiditäten ist wichtig, da sie diagnostiziert und therapeutisch adressiert werden können. So kann ein wesentlicher Beitrag zur Steigerung der Lebensqualität und zum Gesamtzustand der Pat. geleistet werden.

Eine tabellarische Übersicht inklusive Differentialdiagnosen findet sich unter → Differentialdiagnosen. Im Folgenden werden wichtige Komorbiditäten zusammenfassend vorgestellt.

Posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom (PoTS; ICD10 G90.80)

  • PoTS tritt oft im Rahmen der bei vielen ME/CFS-Betroffenen bestehenden orthostatischen Intoleranz auf

  • Kreislaufregulationsstörung, die auf eine Dysautonomie, d. h. eine Fehlregulation des autonomen Nervensystems, zurückzuführen ist

  • Gestörte Orthostasereaktion beim Aufrichten aus liegender Position. Der Ruhepuls steigt nach Lagewechsel um > 30 bpm bei Erw., um > 40 bpm bei Jugendlichen, ohne relevanten Blutdruckabfall. Es folgen Schwindel, Übelkeit, Tachykardie, kognitive Dysfunktion und Schwäche.

  • Aufgrund neurogener Ursachen komplexe Gesamtsymptomatik, die neben den genannten Symptomen auch von einer gestörten Darmmotilität begleitet sein kann

  • Tachykardien können bei schwer ME/CFS-Betroffenen bereits beim Aufsetzen und sogar Anheben des Kopfes eintreten

  • Diagnostik und Therapie: s. → Leitfaden Orthostatische Intoleranz und PoTS

Kostenlose Online-Weiterbildung zu PoTS des PostCOVID-Netzwerks der Charité von Frau Prof. Dr. Andrea Maier, ANS Ambulant RWTH Aachen

Neurogene / Orthostatische Hypotonie (OH; ICD 10 I95.1)

Hypermobiles Ehlers-Danlos-Syndrom (hEDS; ICD 10 Q79.6)

  • hEDS ist die am häufigsten auftretende Subform des Ehlers-Danlos-Syndroms

  • Die Diagnose erfolgt klinisch anhand → Diagnosekriterien und kann von Ärzt*innen jeder Fachrichtung gestellt werden

  • Die vorliegende Überstreckbarkeit der Gelenke kann anhand des Beighton-Scores gescreent werden

  • Seit 2021 mit langfristigem Verordnungsbedarf im Heilmittelkatalog

Weiterführende Literatur:

C. Gensemer et al. (2020): Hypermobile Ehlers-Danlos Syndromes: Complex phenotypes, challenging diagnoses, and poorly understood causes. doi: 10.1002/dvdy.220

Mastzell-Aktivierungs-Syndrom (MCAS; ICD 10 D89.-)

  • Multisystemerkrankung, charakterisiert durch wiederholte episodische Symptomatiken, die durch Ausschüttung von Mastzell-Mediatoren ausgelöst werden. Die Symptome betreffen multiple Organsysteme.

  • Klassische Symptome:

    • Haut: Flushes, Urtikaria, Angioödem

    • GI-Trakt: abdominale Blähung/Krämpfe/Schmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Diarrhoe

    • Respiratorisch: Atemwegsverengung, Atemnot

    • Nasookulär: Juckreiz, Nasenverstopfung, konjunktivale Gefäßinjektion

    • Kardiovaskulär: Hypotonie, Tachykardie, Brustschmerz/Brustenge

    • ZNS: neurokognitive Einschränkungen, „Brain Fog“, Kopfschmerz

    • Systemisch: Fatigue, Anaphylaxie

  • Die Diagnose erfolgt anhand von Konsensus-Kriterien.
    Diese sind:

    • Das Vorliegen von typischen Symptomen

    • Der Nachweis eines Anstiegs der Tryptase im Schub

    • Das Ansprechen auf eine Behandlung

  • Zur Behandlung werden meist empfohlen: H1- und H2-Blocker, Mastzellstabilisatoren (z. B. Cromoglicinsäure) und Leukotrienrezeptorantagonisten (z. B. Montelukast)

  • Assoziation mit Ehlers-Danlos-Syndrom und pathomechanistische Verbindungen zu PoTS, Small-Fiber-Neuropathie (SFN) und Migräne werden in Literatur beschrieben

  • Abzugrenzen von einer Mastozytose (systemisch oder kutan), die auf abnormer Mastzellproliferation beruht und mittels Biopsie diagnostiziert wird. Ein primäres MCAS kann in Folge einer Mastozytose auftreten.

Weiterführende Literatur:

M. Castells et al. (2024): Mast cell activation syndrome: Current understanding and research needs. doi: 10.1016/j.jaci.2024.05.025

Ö. Özdemir et al. (2024): Mast cell activation syndrome: An up-to-date review of literature. doi: 10.5409/wjcp.v13.i2.92813

Small-Fiber-Neuropathie (SFN; G62.88)

  • Heterogene Gruppe von Erkrankungen, die selektiv oder prädominant die peripheren afferenten dünn-myelinisierten Aδ- oder demyelinisierten C-Fasern betreffen

  • Unterschiedliche Phänotypen mit unterschiedlichen Verteilungsmustern bekannt: längenabhängige, aber auch nicht-längenabhängige und fokale Muster möglich

  • Klinisch charakterisiert durch sensorische Symptome, neuropathische Schmerzen und ggf. dysautonome Symptome durch Innervation von Gefäßen, Schweißdrüsen, Haarfollikeln

  • Bei GI-Beteiligung kann die Motilität eingeschränkt sein (Gastroparese, Obstipation), bei urogenitaler Beteiligung können Impotenz, reduzierter Harndrang, Nykturie, Miktionsstörungen und Inkontinenz auftreten

  • Assoziiert mit metabolischen, immun-mediierten, infektiösen und genetischen Erkrankungen sowie toxischen Ursachen, unter anderen auch mit Fibromyalgie, Ehlers-Danlos-Syndrom, PoTS und Post-COVID-Syndrom

  • Diagnostik:

    • Neurologische Untersuchung

    • Nervenfaserdichtemessung in der Hautbiopsie

    • Quantitative sensorische Testung (QST)

    • Korneale konfokale Mikroskopie

    • Testung autonomer Funktionen z. B. mittels quantitativer sudomotorischer Axonreflex-Testung (QSART)

  • Therapie:

    • Grunderkrankung behandeln

    • Symptomatische Schmerzmedikation. First-Line: Pregabalin und Gabapentin, TCA, Duloxetin und Venlafaxin

    • Psychosoziale Unterstützung und Physiotherapie

Weiterführende Literatur:

G. Devigili et al. (2025): The Evolving Landscape of Small Fiber Neuropathy. doi: 10.1055/s-0044-1791823

N. Azcue et al. (2024): Dysautonomia and small fiber neuropathy in post‑COVID condition and Chronic Fatigue Syndrome. doi: 10.1186/s12967-023-04678-3

Arnold-Chiari-1-Malformation (AC1; ICD 10 Q07.0) und weitere intrakranielle/kraniozervikale Auffälligkeiten

  • Angeborene oder erworbene Dislokation der Kleinhirntonsillen oder seltener der Medulla oblongata mit kaudalem Durchtritt durch das Foramen magnum

  • In Folge Liquorzirkulationsstörungen bis hin zu Syringomyelie und Hydrocephalus internus möglich

  • Symptomatisch oft erst im Erwachsenenalter (20 – 40 Jahre)

  • Gehäuftes Auftreten bei komorbidem hEDS

  • Symptomatik (Auswahl):

    • Okzipitale Kopf- und Nackenschmerzen (Hustenkopfschmerz)

    • Tinnitus

    • Nystagmus

    • Koordinations- und Feinmotorikstörung der Extremitäten

    • Störungen des Atemantriebs, des Sprechens und Schluckens

    • Parästhesien der Extremitäten

  • Therapie: Individuell nach Ausmaß und Symptomatik, ggf. neurochirurgische Dekompression

Weitere in der Literatur genannte intrakranielle/kraniozervikale Auffälligkeiten bei ME/CFS:

  • Intrakranielle Hypertonie

  • Kraniozervikale Obstruktionen durch Protrusion oder Hernien

Weiterführende Literatur:

B. Bragée et al. (2020): Signs of Intracranial Hypertension, Hypermobility, and Craniocervical Obstructions in Patients With Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome. doi: 10.3389/fneur.2020.00828

P. C. Rowe et al. (2018): Improvement of severe myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome symptoms following surgical treatment of cervical spinal stenosis. doi: 10.1186/s12967-018-1397-7

Therapeutisches Management

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Eine kausale Therapie von ME/CFS ist bisher nicht bekannt.  Dennoch können Verbesserungen erzielt werden durch:

  • Konsequentes Energiemanagement (Pacing) inklusive Entlastung. Dient der Stabilisierung der Symptomatik und Vermeidung von Verschlechterungen (PEM).

  • Symptomatische Therapie

  • Bei Bedarf zusätzlich:

    • Adäquate Therapie von Begleiterkrankungen

    • Supplementation bei Mangelzuständen

    • Unterstützung zur Krankheitsbewältigung

→ Merke: Besonders belastende Symptome sowie Komorbiditäten wie PoTS/OI/OH oder Allergien/MCAS/Histaminintoleranz, die das Krankheitsbild verschlechtern, sollten zuerst adressiert werden.

Versorgung in Praxis und Krankenhaus

Bei der Versorgung und Therapie von ME/CFS-Pat. muss insbesondere Rücksicht genommen werden auf:

  • Post-Exertionelle Malaise (PEM) (s. Abschnitt → PEM)

  • Teilweise ausgeprägte Reizsensibilität: Für möglichst geräuscharme und abgedunkelte Umgebung sorgen. Ruhige, langsame Gesprächsführung, in schwereren Fällen Gehörschutz und ggf. Augenmaske nötig. Licht, Geräusche und taktile Reize können zu PEM führen.

  • Häufig orthostatische Intoleranz welche u.a. die kognitiven Störungen verstärken kann: Möglichst kurze Wartezeiten und Liegemöglichkeit anbieten, b.B. Liegendtransport, etc. (Details: → Praxisleitfaden OI/PoTS/OH)

  • Ggf. multiple Medikamentenunverträglichkeiten oder paradoxe Reaktionen: Im Notfallpass notieren. Neue Medikamente vorsichtig und einschleichend dosieren.

Verordnungen (VO), Überweisungen (ÜW) und Einweisungen (EW):

  • Alle VO, ÜW und EW gemäß LongCOV-RL mit Vermerk der individuellen spezifischen Einschränkungen versehen (z. B. Belastungsintoleranz/PEM, Reizsensitivität), da Therapeut*innen oft keine Kenntnisse zum Krankheitsbild haben / im Umgang mit Betroffenen nicht geschult sind.

  • Bei VO, ÜW oder EW Infomaterial zu ME/CFS für Behandler*innen mitgeben: z. B. → Infoblatt Physiotherapie, → Infoblatt Krankenhaus, → Infoblatt Psychotherapie.

  • Keine aktivierenden Therapien, keine graded exercise therapy (GET) (laut NICE-Leitlinie 2021 kontraindiziert).

  • Keine Psychotherapie mit kurativer Absicht (in Bezug auf ME/CFS), keine KVT (kognitive Verhaltenstherapie), die von dysfunktionalen Gedankenmustern oder einer Dekonditionierung als ursächliche bzw. aufrechterhaltende Faktoren von ME/CFS ausgeht (NICE-Leitlinie 2021).

Notfallpass, Atteste und Infomaterial:

  • Notfallpass ausstellen (z. B. → Notfallpass der Schweizer Gesellschaft für ME/CFS)

  • Aussagekräftige Atteste und Begründungen formulieren mit klarer Diagnosestellung, Symptomatik, Schweregradeinteilung, Einstufung nach Bell  (ggf. → Formulierungsvorschlag für ärztliche Bescheinigung zum GdB benutzen), da Krankheitsbild in der Breite der Versorgungsstrukturen weitgehend unbekannt ist und damit unnötige Fehldiagnosen und Fehleinschätzungen vermieden werden können

  • Pat. bei der Beantragung von Versorgungsleistungen unterstützen. Falls benötigt, weitere externe Unterstützung anregen (z. B. Pflegestützpunkte zum Ausfüllen von Formularen)

  • Bei noch erhaltener (ggf. eingeschränkter) Arbeitsfähigkeit oder Wiedereingliederung: → Infoblatt Arbeitgeber mitgeben

  • Betroffene schulpflichtige Kinder: → Infoblatt Schule mitgeben

Versorgung in der Praxis

  • Falls Praxisbesuch nicht möglich oder nötig: Videosprechstunde / Telefonkontakt / E-Mail-Kontakt / Hausbesuch anbieten

  • Bei der Terminvergabe Energieniveau der Pat. berücksichtigen (z. B. eher morgens oder nachmittags?); Möglichkeit zur kurzfristigen Terminverschiebung anbieten

  • Möglichst kurze Wartezeiten

  • Bei Bedarf: Liegendtransport, Geräusch- und Reizabschirmung (ggf. medikamentöse Abschirmung / Sedierung bei Schwerstbetroffenen, s. a. → Pat. mit schwerem und schwerstem ME/CFS)

  • Bei ausgeprägter OI: Liegemöglichkeit anbieten

  • Aufgrund neurokognitiver Störungen / Merkfähigkeitsstörungen:

    • Pat. Ermutigen, die Krankengeschichte, aktuelle Medikation, Fragen etc. vorab schriftlich zu fixieren

    • Pat. bei Wortfindungsstörungen ermutigen, sich Zeit zu lassen

    • Begleitperson erwägen zur Assistenz der Pat.

    • Therapie- und Medikationsplan schriftlich mitgeben

  • Anamnese und Untersuchungen an das Energieniveau der Pat. anpassen (Details s. → Diagnostik)

  • Psychosoziale Belastungen aktiv erfragen (z. B. finanzielle Sorgen und Einsamkeit)

  • Jährlich Impfstatus prüfen

  • Vorsorge-Untersuchungen thematisieren und unterstützen (z. B. mittels Liegendtransport etc.)

Versorgung im Krankenhaus

Es gibt deutschlandweit keine spezialisierten stationären Versorgungsangebote, die an die Bedürfnisse von ME/CFS-Pat. angepasst sind.

Krankenhausaufenthalte (egal welcher Ursache) können zu massiver Verschlechterung (PEM) führen. Exemplarische PEM-Ursachen:

  • Anhaltende und hohe Geräusch- und Lichtpegel, starke Gerüche

  • Konzentration erfordernde Gespräche (Anamnesegespräche oder Aufklärungsgespräche)

  • Lange Wege im Krankhaus

  • Belastung durch Diagnostik und physiotherapeutische Behandlungen

  • Orientierungsanforderungen in neuer Umgebung

  • Gestörter Schlaf durch vorgegebene Tagesabläufe oder Abweichung von strikten Tagesabläufen

  • Fehlendes Verständnis der vorliegenden Einschränkungen: Aufklärung des medizinischen und Pflegepersonals von Seiten der Betroffenen in den meisten Fällen erforderlich

  • Bei schwerer Betroffenen bereits die Selbstversorgung im Zimmer, der Gang zur Toilette und Grundpflege (z. B. bei Berührungsempfindlichkeit) sowie eine länger andauernde Anwesenheit weiterer Personen (Mehrbettzimmer)

  • Narkose und Medikation (CAVE: ggf. multiple Medikamentenunverträglichkeiten)

Empfehlungen vor der Aufnahme:

  • Vorbesprechung des Aufenthaltes mit Pat./Angehörigen, dabei u. a. Evaluation von Pflege und Betreuungsbedarf, Komorbiditäten, Unverträglichkeiten und Sensitivitäten sowie bekannten Triggern von PEM

  • Vorbesprechung mit dem Krankenhaus (Einzelzimmerbedarf, Anpassung an die oben evaluierten Bedürfnisse)

  • Bei Schwer- und Schwerstbetroffenen: Planung des Transportes ins und durch das Krankenhaus (Transport direkt aufs Zimmer, möglichst unter Umgehung geräuschintensiver Bereiche, ggf. sedierende Abschirmung)

  • Auf Einweisung zusätzlich zur Diagnose „CAVE: ME/CFS mit Belastungsintoleranz“ und Schweregrad sowie b.B. „extreme Reizüberempfindlichkeit (Licht/Geräusche/Berührungen)“ angeben

  • → Notfallpass mitgeben

  • → Infoblatt Krankenhaus mitgeben

  • Nahrungsergänzungsmittel und pflanzliche Präparate 1 Woche vor OP absetzen

Im Krankenhaus: Aufenthalt, Operation, Anästhesie
Siehe → Infoblatt Krankenhaus: Aufenthalt, Operation, Anästhesie

Maßnahmen zur Reizreduktion während eines stationären Aufenthalts

  • Einzelzimmer mit Bad

  • Begleitperson zur vertrauten Assistenz / Anleitung des Personals zulassen

  • Untersuchungen, Anamnesen etc. planen und Redundanzen vermeiden

  • Reduktion von Geräuschen, z. B. Zimmertür geschlossen halten, Stummschalten von Apparaten, mit gedämpfter Stimme sprechen, Einzelgespräche, Gehörschutz für Pat.

  • Gedimmtes Licht und Zimmerverdunkelung, Augenbinde anbieten

  • Bei Schwerstbetroffenen: Reduzierte taktile Stimulation (bei Untersuchung, Pflege und Therapie)

  • Ruhige Bewegungen und Gesten

  • Möglichst stabile Zimmertemperatur

  • Minimierung von Gerüchen

Weiterführende Literatur:

T. Weber (2025) Anästhesie bei Patient:innen mit postviralen Erkrankungen; https://doi.org/10.1007/s44180-025-00227-0

Energiemanagement und Pacing, PEM-Management

Pacing

  • Pacing ist die essenzielle Basis des Krankheitsmanagements bei ME/CFS. Weiterführende Informationen zu Pacing finden sich unter → Pacing - Deutsche Gesellschaft für ME/CFS

  • Pacing ist eine Form des Aktivitäts- und Energiemanagements und trägt zur Vermeidung von Zustandsverschlechterungen in Form von PEM bei. Es erfasst die gesamte Lebensgestaltung. Konsequentes Pacing kann zur Stabilisierung der Symptomatik und damit einhergehend zur Steigerung der Lebensqualität beitragen.

  • Pacing ist KEIN individuell gestaltetes Trainings- oder Aktivierungsprogramm. Im Gegenteil:

    • Pat. müssen ein Gespür für ihr pathologisches Belastungsniveau entwickeln und in Folge konsequent und unter Einhaltung strikter Grenzen in allen Aktivitäten darunterbleiben, um die Provokation einer PEM zu vermeiden.

    • Aufgrund des üblicherweise unverminderten Antriebs der Betroffenen bedeutet Pacing strikte, vorausschauende Energieeinteilung, ggf. Reizabschirmung sowie eine anhaltende Selbsteinschränkung in allen Lebensbereichen auf muskulärer, kognitiver aber auch sensorisch und emotional stimulierender Ebene.

    • Oft müssen dauerhaft entlastende Maßnahmen geschaffen werden, um den Betroffenen überhaupt erst zu ermöglichen, unterhalb der individuellen Belastungsgrenze mit ihren verbleibenden Kräften zu agieren.

Bei allen Pat. mit PEM empfiehlt sich:

  • Aufklärung zum Thema Aktivitäts- und Energiemanagement (Pacing). Bedeutung von Pacing für den Krankheitsverlauf betonen.

  • Informationsmaterialien mitgeben (z. B. → Anleitung zum Pacing der DG.ME/CFS)

  • Auf Informationen und Videos im Internet (z. B. → Was ist Pacing der DG.ME/CFS und Long COVID Deutschland) sowie Aktivitäts- und Symptomprotokolle → für Erwachsene und → für Kinder, auch in Form von Apps (z. B. Visible) verweisen.

  • Möglichkeit der Erfassung der aktuellen Belastungsgrenze mittels Herzfrequenz-und/oder Herzratenvariabilitäts- (HRV-)Messung erwähnen, z. B. durch wearables (z. B. Garmin mit App Pacing watchface) und Apps (z. B. Welltory, Visible). (Anm.: Eine Kontrolle über die Herzfrequenzmessung ist bei PoTS meist nicht möglich, da bei PoTS die HF bereits durch die Orthostase ansteigt und damit keine HF-basierte Berechnung der anaeroben Schwelle erfolgen kann.)

  • Explizit darauf hinweisen, dass in Bezug auf körperliche Aktivität, Physiotherapie oder Reha das übliche Konzept der stufenweise zunehmenden Trainingsintensität (graded exercise therapy – GET) zu schweren Zustandsverschlechterungen führen kann und kontraindiziert ist. Details: → ME/CFS: der Unterschied zwischen Pacing und GET

  • Pacing bei weiteren Vorstellungen erneut thematisieren, um Bewusstsein und Umsetzung zu unterstützen.

Für Erklärungen zu den Begriffen PEM und Pacing können das kürzere → Informationsblatt Pacing kurz oder die ausführlichere → Anleitung zum Pacing herangezogen werden.

PEM-Management

Bei Eintreten einer PEM ist der Allgemeinzustand der Betroffenen in der Regel so vermindert, dass eine Belastungsreduktion unweigerlich schon nur aufgrund der Symptomlast eingehalten werden muss. In einer Studie konnte nachgewiesen werden, dass Betroffene nach starker körperlicher Belastung im Schnitt ca. 2 Wochen Erholungszeit benötigen, gesunde untrainierte Kontrollpersonen hingegen nur 2 Tage (Moore et al. 2023). Bei schwerer PEM kann sich der Zustand und Schweregrad der Erkrankung dauerhaft verschlechtern.

  • Das Aktivitätsniveau sollte längere Zeit (Tage, ggf. Wochen) deutlich unterhalb der pathologischen Belastungsgrenze gehalten werden, bis sich möglichst die alte Baseline (Niveau unterhalb der PEM-auslösenden Schwelle), die vor der Episode bestand, wieder eingestellt hat.

  • Belastungsreduktion: Notwendige Unterstützung gewähren und einleiten

  • Symptomlinderung mittels nichtmedikamentöser Therapie (z. B. Wärme, Reizreduktion) und medikamentöser Therapie (z. B. Schmerzmedikation)

Zur Behandlung Schwer- und Schwerstbetroffener / bei schwerer PEM: siehe Abschnitt → Pat. mit schwerem und schwerstem ME/CFS

Symptomatische Therapie

Allgemeine Hinweise zur medikamentösen Therapie

Allgemeines Vorgehen:

  • Prioritätsliste Therapie erstellen:

    • Mit Pat. Hauptsymptome und Therapiebedarf/Wunsch besprechen
      (z. B. Schlafstörung, Schmerzen, Fatigue, OI, kognitive Störungen, Reizsensibilität)

    • OI/PoTS sowie allergische Diathese/MCAS/Histaminintoleranz früh adressieren. Durch deren Therapie können sich ggf. auch weitere ME/CFS-Symptome bessern.

  • Stufenweise jeweils nur ein neues Medikament einführen. Pragmatischer Therapieversuch für 4 Wochen, bei Wirksamkeit Fortsetzung. (Ausnahme Mestinon/Pyridostigmin, LDN und LDA: Wirkentfaltung erst nach längerer Einnahmedauer und Aufdosierung.) Bei Nicht-Ansprechen oder (stärkeren) Nebenwirkungen ausschleichen/absetzen.

  • Einige ME/CFS-Erkrankte haben multiple Arzneimittel-Unverträglichkeiten oder reagieren paradox, daher neue Medikamente stets vorsichtig einschleichen.

  • Wirkung und Verträglichkeit bei jeder Konsultation erfragen.

  • Möglichst Medikamente wählen, die auf mehrere Symptome gleichzeitig wirken, um Wechselwirkungen bei Polypharmazie zu minimieren.

  • Arzneimittelinteraktionen überprüfen.

  • Durch Medikation können PEM-Warnsymptome verschleiert werden und/oder andere Symptome zunehmen. Beispiel:  Steigerung der Muskelkraft durch Pyridostigmin, in Folge ggf. vermehrte körperliche Belastung und dadurch vermehrt Muskelschmerzen oder PEM-Episoden.

  • Aufklärung der Pat. über vorsichtigen Umgang mit Zustandsverbesserungen. Zu schnelle/drastische Aktivitätssteigerungen können PEM-Episoden auslösen und u. U. kleinere Verbesserungen zunichtemachen.

  • Zu beachten: Der Stehtest kann durch kreislaufwirksame Medikamente und der Pricktest durch Antihistaminika falsch negativ sein, daher bei anstehender Testung Medikamenten-Einnahme pausieren.

 Wir verweisen zur Medikamentenempfehlung auch auf den → Therapiekompass des BfArm und die aktuell noch in Arbeit befindliche → Off-Label-Use-Liste.

Medikamente, die verschiedene Symptome bessern können

Folgende Medikamente können gegen mehrere Symptome von ME/CFS wirken. Die Wirkung ist überwiegend in kleineren, teils placebokontrollierten Studien getestet worden. Sie können außerhalb ihrer zugelassenen Indikationen „off-Label“ eingesetzt werden. Die Wirksamkeit muss individuell getestet werden, da nicht alle Pat. gleichermaßen von den Medikamenten profitieren.

Häufiger angewandt und Wirksamkeit in klinischen Studien oder Fallberichten belegt:

  • Pyridostigmin (Mestinon®, Kalymin®): PoTS, Fatigue, Kraft, PEM

  • Low-Dose-Naltrexon (LDN): Fatigue, kognitive Dysfunktion, PEM, Schmerzen, Reizüberempfindlichkeit

  • Low-Dose-Aripiprazol (Low-Dose-Abilify®, LDA): Fatigue, kognitive Dysfunktion, PEM, Reizüberempfindlichkeit

Weniger häufig angewandt (klinische Studien liegen vor):

  • Neuromodulatorische Medikamente (z. B. Methylphenidat, Dexamfetamin, SSRI, SNRI): Konzentration und Fatigue

  • Agomelatin: Fatigue und Schlaf

→ Tipps und Tricks:

Die Medikamente Pyridostigmin, Low-Dose-Aripiprazol (LDA) und Low-Dose-Naltrexon (LDN) lassen sich in dem für ME/CFS angegebenen Niedrigdosisbereich kombinieren.

Hinweise zur Off-Label-Therapie

„Off-Label-Use“ bedeutet der Einsatz von Medikamenten außerhalb der zugelassenen Indikation(en). Wenn laut G-BA-Bewertung keine ausreichenden Studien und Evidenz für eine indikationsbezogene Zulassung vorliegen oder eine solche Bewertung noch nicht durchgeführt wurde, kann ein Medikament dennoch außerhalb der Zulassung verordnet werden. In manchen Fachdisziplinen, z. B. der Pädiatrie, ist dies eine gängige Praxis, da viele Medikamente nicht an Kindern geprüft werden. Momentan befinden sich LDN, Ivabradin, Agomelatin und Vortioxetin in der Prüfung durch den G-BA.

  • Off-Label-Therapie immer mit entsprechender ausführlicher Aufklärung (erweiterte Aufklärungspflicht) und Dokumentation → Vereinbarung zur Off-Label-Therapie unterzeichnen lassen

  • Kosten werden in der Regel nicht von den gesetzlichen KK übernommen (blaues Privatrezept)

  • Antrag auf Übernahme durch Krankenkasse kann gestellt werden. Bei Antragstellung auf entsprechend stichhaltige Argumentation, wichtige Untersuchungsbefunde inklusive Schweregrad und Erklärungen zu ME/CFS, ggf. bereits positiver Wirktestung und bereits vorhandener Evidenz (Literaturverweise einfügen) verweisen.

Allergische Diathese / Mastzellaktivierung und MCAS / Histaminintoleranz / Nahrungsmittelunverträglichkeiten

Bei ME/CFS treten oft teils neue bzw. multiple Allergien/Unverträglichkeiten auf. Diese betreffen oft Nahrungsmittel und auch Medikamente. Oft liegen auch Unverträglichkeiten gegen Gluten, FODMAPS und/oder Fructose vor. Entsprechende Trigger müssen gemieden werden.

Eine gesteigerte Mastzellaktivierung kann komorbid auftreten und eine zusätzliche Belastung darstellen. Das Diagnosekriterium „Nachweis von Mastzellmediatoren“ für ein Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS) ist meist nicht erfüllt. Bei erhöhter Tryptase ist auch an das Vorliegen einer hereditären alpha-Tryptasämie zu denken. Manche Betroffene reagieren auch empfindlich auf histaminhaltige Nahrungsmittel. Bei entsprechender Symptomatik empfiehlt sich eine probatorische Therapie und eine entsprechende Meidung von Triggern.

Ausführlichere Informationen zum MCAS siehe → Mastzellaktivierungssyndrom

Therapieschema:

  • Vermeidung/Verminderung der Auslöser

  • Bei Allergiesymptomen und Unverträglichkeiten:
    H1-Antihistaminikum, das nicht müde macht (probatorisch für 2 – 3 Monate);

    Meidung der Allergene; ggf. Ernährungsberatung

  • Bei (V.a.) Mastzellaktivierung/MCAS/Histaminintoleranz:
    H1- plus H2-Antihistaminikum (probatorisch für 4 Wochen); in schweren Fällen Mastzellstabilisator erwägen

  • Bei (V.a.) Histaminintoleranz: Histaminarme Diät, ggf. Ernährungsberatung

  • Bei klassischen Reizdarmsymptomen: Gemahlene Flohsamenschalen, Probiotika, ggf. medikamentöse Therapie

Schmerzen

  • Kopfschmerzen (oft migräneartig), Glieder-, Muskel- und Gelenkschmerzen (oft multilokulär)

  • Teils neuropathische Schmerzen (brennend, stechend, einschießend)

  • Halsschmerzen, teils rekurrierend (z. B. bei PEM), teils persistierende Halsschmerzen (dann DD: Agranulozytose oder Thyreoiditis de Quervain)

  • Oft mehrere Schmerzsyndrome gleichzeitig auftretend

  • Oft Nichtansprechen auf gängige Analgetika

Nichtmedikamentöse Verfahren

  • Pacing zur PEM-Vermeidung (Verstärkung oder neues Auftreten von Schmerzen bei PEM)

  • Angewendete Verfahren müssen individuell auf Verträglichkeit und Schweregrad angepasst sein, um keine PEM zu provozieren (s. → Infos Physios for ME)

  • Mögliche Verfahren: Entspannungsverfahren, z. B. Atemübungen, Meditation

  • Physikalische Verfahren: Wärmeanwendungen (z. B. Bäder), Kälteanwendungen, manuelle Therapie, ggf. sanfte Massagen (CAVE: warme Bäder können bei PoTS zu Kreislaufproblemen führen)

Falls ÜW an Schmerzmedizin notwendig:

  • CAVE: Übliche interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie (IMST) hat einen aktivierenden Ansatz, welcher bei Belastungsintoleranz kontraindiziert ist. Daher auf ÜW „CAVE: Belastungsintoleranz mit PEM“ notieren.

Medikamentöse Therapie

Therapie nach WHO-Stufenschema. Mögliche Wirkstoffe:

  • Paracetamol

  • Ibuprofen/Diclofenac

  • LDN (Low-Dose-Naltrexon) (s. → Medikamente, die verschiedene Symptome bessern können)

  • LDA (Low-Dose-Aripiprazol) (s. → Medikamente, die verschiedene Symptome bessern können)

  • Metamizol

  • Neuropathische Schmerzen: Therapieversuch mit Gabapentin oder Pregabalin (CAVE: Suchtpotential)

  • Kopfschmerzen: Bei Nichtansprechen zuvor wirksamer Analgetika: Indometacin oder Amitrptylin (bei PoTS kein Amitriptylin!); ggf. Therapie einer bestehenden Migräne: Botulinumtoxin, CGRP-AK

  • Gelenkschmerzen: Naproxen, Celecoxib (nicht retardiert), Etoricoxib

  • Persistierende Halsschmerzen, die kaum auf Analgetika ansprechen; ggf. anästhetikahaltige Gurgellösungen

  • Therapeutisches Cannabis oder CBD-Öl

Weiterführende Informationen:

B. Luchting et al. (2023): Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie bei postviralen Syndromen und ME/CFS;  https://doi.org/10.1007/s00482-023-00761-2

Erholung und Schlaf

  • Oft quälende Schlafstörungen trotz erheblicher Müdigkeit („tired but wired“-Gefühl)

  • Pat. wachen „wie gerädert“ auf

  • Tagsüber häufige und/oder längere Ruhephasen, teils auch Schlaf benötigt, übliche Schlafhygiene-Empfehlung wie „tagsüber nicht hinlegen“ daher kaum umsetzbar

  • Verschiebung des Tag-Nacht-Rhythmus möglich (rollierend)

Nichtmedikamentöse Verfahren

  • Pacing zur PEM-Vermeidung (bei PEM ggf. massive Verstärkung der Schlafstörungen)

  • Schlafbezogene und schlafstörende Begleiterkrankungen adäquat behandeln (z. B. Schlafapnoe, Allergische Rhinitis, Asthma bronchiale)

  • Allgemeine Schlafhygiene (ggf. Informationen mitgeben):

    • Späte und üppige Mahlzeiten vermeiden, aber auch nicht hungrig ins Bett

    • Ab (nach)mittags keine koffeinhaltigen Getränke

    • Möglichst täglich zur gleichen Zeit ins Bett

    • Reizreduktion vor der Schlafenszeit (z. B. Fernsehen/soziale Medien)

    • Schlafzimmer: Temperatur angenehm? Ausreichende Lüftung?

    • Störungsfreie Schlafumgebung (ggf. Hörschutz, Abdunklung etc.)

    • Einschlafrituale

    • CAVE: Strikte Schlafhygiene („tagsüber nicht hinlegen/wachhalten“) kann PEM auslösen

  • Entspannungsverfahren z. B. Meditation, Atemübungen

  • Ggf. spezielle psychotherapeutische Techniken zur Schlafhilfe aus der kognitiven Verhaltenstherapie. Hierbei Hinweise zu KVT bei ME/CFS unter → Psychische Folgebelastungen, psychische Störungen und Psychotherapie beachten.

Medikamentöse Therapie

Schlafstörungen bei ME/CFS sind nicht nur vorübergehend, daher:

  • Medikamente mit stärkerem Abhängigkeitspotenzial (z. B. Benzodiazepine oder Z-Substanzen) nur als Krisenintervention

  • Bei leichteren Schlafstörungen ggf. Therapieversuch mit pflanzlichen Mitteln (keine Studien bzgl. ME/CFS vorliegend)

Empfehlenswerte Medikamente:

  • Melatonin, retardiert(!). Erstattungspflichtig ab 55 Jahre, sonst Privatrezept. Wirkt stabilisierend auf Tag-Nacht-Rhythmus. Auch Kombination mit niedrig dosiertem Antidepressivum mgl.

  • Niedrig dosierte Antidepressiva wie Mirtazapin, Trimipramin, Doxepin zur Schlafinduktion. Dosierung deutlich unterhalb antidepressiver Dosis. (CAVE: kein Amitriptylin bei Tachykardie/PoTS)

  • CBD-Öl oder therapeutisches Cannabis (als Tropfen) zur Beruhigung und Schlafinduktion

  • Daridorexant

  • Promethazin

Kognitive Störungen

Ein Teil der Medikamente, die verschiedene Symptome bessern könnnen, kann die neurokognitiven Symptome verringern. Allgemein gilt, dass Therapien, die die allgemeine Symptomlast senken, auch eine Besserung der kognitiven Beschwerden herbeiführen können. Deshalb empfiehlt sich:

Zu nichtmedikamentösen Verfahren, die bei neurokognitiven Beschwerden üblicherweise angewandt werden, gibt es noch keine evidenzbasierten Empfehlungen. Hier gilt zu beachten, dass eine evidenzbasierte Nutzen-Risiko-Abwägung nicht möglich ist. Da kognitive Überlastung PEM verursachen kann, ist hier das Risiko einer Zustandsverschlechterung gegeben.

  • Ergotherapie (nur wenn Therapeut*in für PEM sensibilisiert): Ggf. hilfreich für Adaptation (z. B. Verwendung von Merkhilfen, Umgang mit Wortfindungsstörungen etc.)

  • Hirnleistungstraining bislang keine/wenig Evidenz. Details s. → Ergotherapie

Praxishinweis:

  • Hinweise unter → „Versorgung in Praxis und Klinik“ beachten (z. B. Pat. ermutigen, Fragen vorher aufzuschreiben; Medikations- und Therapieplan schriftlich)

  • Je nach Ausprägung der kognitiven Störungen ggf. Fahrtüchtigkeit thematisieren

Reizüberempfindlichkeit

Bei vielen Pat., besonders bei Pat. mit schwerem/schwerstem ME/CFS, besteht eine ausgeprägte Reizüberempfindlichkeit. Sinneswahrnehmungen, insbesondere Licht und Geräusche/Sprache, in schwereren Fällen auch Berührungen und Gerüche, sind äußerst unangenehm, teilweise schmerzhaft und können zusätzlich eine PEM auslösen. Die Symptomschwere kann auch hier tagesabhängig fluktuieren.

Therapeutische Möglichkeiten:

  • Stabilisierung des Gesamtzustandes durch Pacing und (Off-Label-) Medikation gegen neurokognitive Beschwerden (LDN, LDA oder SSRI)

  • Konsequente Abschirmung: Sonnenbrille, Gehörschutz, Raumverdunkelung, minimale taktile Stimulation Schwerstbetroffener, Vermeidung starker Gerüche; s. a. Infobox „Maßnahmen zur Reizreduktion“

  • Adäquate Behandlung einer möglichen vorliegenden orthostatischen Intoleranz, einer Mastzellaktivierung oder eines MCAS

  • Kurzzeitige Abschirmung mittels sedierender Maßnahmen (z. B. Lorazepam); s. a. → Pat. mit schwerem und schwerstem ME/CFS

Mögliche Maßnahmen zur Reizreduktion

  • Geräusche: Zimmertür geschlossen halten, möglichst räumliche Entfernung von Geräuschquellen, Gehörschutz (Ohrstöpsel und/oder Schallschutz-Kopfhörer), mit gedämpfter Stimme sprechen, Einzelgespräche

  • Licht: dimmbares Licht und Zimmerverdunkelung (Rollo, lichtdichte Vorhänge), Sonnenbrille, Augenbinde

  • Berührung: minimale taktile Stimulation (vorsichtiger Umgang mit Berührungsdruck bei Pflege und Therapie)

  • Gerüche: Verzicht (auch bei Betreuungspersonen und Besuch) auf stark riechende Substanzen wie Deodorants, Reinigungsmittel, Parfüm etc.

  • Sonstiges: möglichst stabile Zimmertemperatur und -feuchtigkeit, ruhige Bewegungen und Gesten

Psychische Folgebelastungen, psychische Störungen und Psychotherapie

→ Merke: Die Annahme psychischer Faktoren bei der Verursachung oder Aufrechterhaltung von ME/CFS widerspricht dem wissenschaftlichen Konsens.

Wie bei jeder anderen schweren somatischen Erkrankung können psychische Folgebelastungen und Reaktionen oder zusätzliche psychische Störungen vorliegen (oder vorbestehen).

Zur psych. Differenzialdiagnostik bei ME/CFS müssen „Psychische Störungen“ von „psychischen Folgebelastungen“ bzw. „psychischen Reaktionen“ auf eine schwere chronische Erkrankung unterschieden werden. Der Begriff Störung meint immer eine über das übliche bzw. „normale“ Maß hinausgehende psychische Reaktion, die deshalb neben der körperlichen Erkrankung einen eigenen Krankheitswert hat und somit auch als eigene Krankheit behandelt werden muss. Psychische Folgebelastungen hingegen sind nachvollziehbar und innerhalb der Norm, auch wenn sie entsprechend der Schwere der körperlichen Krankheit sehr ausgeprägt sein können. Im Falle von ME/CFS können beide Möglichkeiten vorliegen, normalerweise und am häufigsten aber die zuletzt genannte der psychischen Folgebelastung. Bezüglich der Behandlung Betroffener ergibt es einen fundamentalen Unterschied, ob man den Pat. vermittelt, dass neben ME/CFS nun auch noch eine Depression besteht, oder ob man die Not anerkennt und in einer Weise antwortet, die das Leiden als etwas sehr Verständliches empathisch validiert. Von der Frage, ob es sich um eine komorbide Depression oder eine Reaktion im eben erläuterten Sinne handelt, hängt es auch ab, ob eine therapeutische Begleitung und/oder Medikation die erste und angemessene Intervention ist.

Psychosoziale Faktoren, die bei ME/CFS vorliegen können

Die Lebensrealität ME/CFS-Betroffener kann durch mehrere psychosoziale Faktoren beeinflusst werden, die sich gegenseitig verstärkend auswirken können.

  • Die Krankheitslast (im Sinne des Verlusts an Lebensqualität) ist im Vgl. zu anderen schweren Erkrankungen sehr hoch. Siehe → Grundlagen zum Krankheitsbild

  • Durch mangelnde medizinische Versorgungsangebote, fehlende Kenntnisse begutachtender Personen, Fehldiagnosen und ggf. daraus resultierender Verweigerung sozialrechtlicher Ansprüche (Pflegegrad, GdB, EM-Rente) kann sich schnell eine akut bedrohliche Situation der Unterversorgung und ein materielles Armutsrisiko entwickeln. Dies kann als zusätzliche Belastung durch die Natur der Erkrankung zu weiterer Zustandsverschlechterung führen.

  • Hinzu kommen oftmals Stigmatisierungserfahrungen im Gesundheitswesen und sozialen Umfeld oder zunehmende soziale Vereinsamung. Dies kann eine erhebliche psychische Zusatzlast bedeuten. Siehe hierzu auch → Grundlagen zum Krankheitsbild

Bei psychischen Folgebelastungen und Reaktionen können ME/CFS-Pat. auch ohne manifeste psychische Erkrankung ggf. von einer supportiven Psychotherapie profitieren. Diese kann z. B. hilfreich sein um:

Psychische Folgebelastungen vs. Depression

Ein erstes Screening in der Praxis kann mittels PHQ-4 Fragebogens durchgeführt werden.

Zur problematischen Trennschärfe üblicher Depressionsfragebögen zu ME/CFS sei auf den Abschnitt → Validierte oder etablierte diagnostische Fragebögen und Tests verwiesen.

  • Bei auffälligem PHQ-4 Fragebogen kann es sich sowohl um eine psychische Folgebelastung als auch um eine komorbid vorliegende Depression handeln. Es bedarf einer ausführlichen psychologischen Untersuchung durch ME/CFS-geschulte(!) Psychotherapeut*innen, um Fehldiagnosen zu vermeiden.

  • Von der Frage, ob es sich um eine komorbide Depression oder eine Reaktion auf die Schwere der Erkrankung im eben erläuterten Sinne handelt, hängt es auch ab, ob eine therapeutische Begleitung und/oder eine medikamentöse Behandlung die erste und angemessene Intervention ist.

  • Eine psychotherapeutisch diagnostizierte Depression sollte adäquat psychotherapeutisch und ggf. medikamentös behandelt werden.

Hierbei gilt zu beachten:

  • Therapeutische Konzepte mit kurativer Absicht in Hinblick auf ME/CFS sollten ebenso wie körperliche Trainingsprogramme mit gradueller Leistungssteigerung (graded exercise therapy – GET) nicht mehr angewandt werden (s. NICE 2021).

  • Behandlungsansätze, die von dysfunktionalen Gedankenmustern oder einer Dekonditionierung als ursächliche bzw. aufrechterhaltende Faktoren von ME/CFS ausgehen, haben keine Evidenzgrundlage und bergen ein erhebliches Schadenspotential (s. IQWiG 2023).

  • Das therapeutische Setting muss an die Belastungsfähigkeit der Pat. angepasst werden, sowohl in der Praxis (z. B. Liegemöglichkeit, verkürzte Sitzungen, Möglichkeit zu Videosprechstunde etc.) als auch bzgl. der kognitiven und emotionalen Belastungen. Es gilt der Grundsatz: „Pacing first!“ Ggf. die Pat. bei der Suche nach Therapeut*innen unterstützen, die – idealerweise – ME/CFS-geschult sind, oder zumindest flexibel genug, um das Setting anzupassen (s. o.). In der Überweisung auf das Vorliegen von ME/CFS und insbesondere die PEM-Gefahr hinweisen.

  • Infoblatt → „ME/CFS - Begleitende Psychotherapie“ aushändigen und für Psychotherapeut*in mitgeben.

  • Ggf. Übersichtsartikel „Die Rolle der Psychotherapie in der Versorgung von Patienten mit Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue Syndrom (ME/CFS)“ mitgeben: → Original oder → deutsche Übersetzung

 Merke: Die Suizidrate ist unter ME/CFS-Pat. im Vergleich zur Bevölkerung deutlich erhöht (McManimen et al. 2017). Daher sollte das psychische Befinden als auch explizit Suizidalität sowie (noch) vorhandene Ressourcen bei Bedarf wiederholt thematisiert werden, z. B. auch fragen: „Gibt es etwas, was Sie am Leben hält?“

ME/CFS-Symptomatik, psychische Folgebelastungen vs. Angststörung

Diffizile Differenzialdiagnostik:

  • Bei ME/CFS kann es u. a. durch dysautonome Störungen und eine hyperadrenerge Situation zu Symptomen kommen, die sowohl mit einer Angststörung und Panik-Attacken verwechselt werden als auch tatsächlich Ängste auslösen können (Details s. Infokasten).

  • Gleichzeitig durchleben Pat. reale Bedrohungssituationen durch Schwere der Symptomatik, Existenzängste, nicht ausreichende Versorgung, Ausgrenzung, ungewisse Prognose, etc. Die Entwicklung von Angst in dieser Situation ist eine zu erwartende psychische Reaktion. Die Abgrenzung zu einer psychopathologisch bedingten, krankhaften psychischen (Angst-)Störung ist erschwert. Außerdem können psychische Störungen schon vorher bestehen.

  • Eine ausreichende Trennschärfe entsprechender psychologischer Fragebögen ist nicht anzunehmen (s. Abschnitt → Validierte oder etablierte diagnostische Fragebögen und Tests).

Pathophysiologie und Angstsymptome bei ME/CFS

  • Störungen des autonomen Nervensystems sind im neuroimmunologischen Symptomkomplex von ME/CFS enthalten.

  • Erhöhte Konzentrationen funktionell aktiver Autoantikörper gegen adrenerge und muskarinerge Rezeptoren des autonomen Nervensystems wurden in Studien bei ME/CFS nachgewiesen und stellen einen der aktuell diskutierten, möglichen Pathomechanismen der Erkrankung dar.

  • Die dysautonome Symptomatik von ME/CFS beinhaltet Tachykardien, Palpitationen, Schwindel, Dyspnoe, bis hin zu Thermoregulationsstörungen, Miktionsstörungen und Motilitätsstörungen des Gastrointestinaltraktes.

  • Klassische Symptome von Ängstlichkeit, Schreckhaftigkeit bis hin zu Panikattacken können zusätzlich durch eine ME/CFS bedingte hyperadrenerge Situation ausgelöst werden.

Therapie:

  • Adäquate ME/CFS-Therapie und gutes, konsequentes Pacing

  • Adäquate Therapie einer vorliegenden OI (inklusive PoTS oder OH) mit suffizienter Pulskontrolle (z. B. mit Ivabradin, Pyridostigmin, ggf. β-Blocker (vorzugsweise Nebivolol), s. a. → Orthostatische Intoleranz/PoTS/OH)

Bei persistierender Symptomatik:

  • Psychologische Untersuchung durch ME/CFS-geschulte(!) Therapeut*innen um Fehldiagnosen zu vermeiden

  • Infoblatt → ME/CFS – Begleitende Psychotherapie aushändigen und für Therapeut*in mitgeben

  • Ggf. Übersichtsartikel „Die Rolle der Psychotherapie in der Versorgung von Patienten mit Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue Syndrom (ME/CFS)“ mitgeben: → Original oder → deutsche Übersetzung

  • Psychotherapeutische Behandlung unter Beachtung von ME/CFS

  • Medikamentös: Übliche Anxiolytika, z. B. Benzodiazepine b. Bedarf (CAVE: Abhängigkeitspotenzial) 

Weiterführende Informationen:

T. Grande et al. 2024: The role of Psychotherapy in the Care of Patients with Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome. https://doi.org/10.3390/medicina59040719

Informationsblatt – Begleitende Psychotherapie bei ME/CFS: https://www.mecfs.de/psychotherapie/

Ernährung und Supplemente

Mehrere Studien zeigen bei ME/CFS metabolische Störungen, u. a. folgender Stoffwechselwege:

  • Hemmung des Citratzyklus und der Zellatmung, der sog. oxidativen Phosphorylierung in den Mitochondrien, mit verminderter Produktion von ATP

  • Störungen des Kohlenhydratmetabolismus

  • Störungen des Fettsäurestoffwechsels

  • Störungen des Harnstoffzyklus

  • Störungen des Aminosäurenmetabolismus

Ernährung

Die folgenden Empfehlungen stützen sich auf Expert*innenmeinung und biologische Rationale. Eine höhergradige Evidenz liegt nicht vor. Empfehlung:

  • Ausgewogen mit ausreichend Eiweiß (1g/kg KG) und ungesättigten Fettsäuren

  • Diät nur bei Bedarf, z. B. bei → Nahrungsmittelunverträglichkeiten

  • Schwerstes ME/CFS mit Malnutrition: Hochkalorische, proteinreiche (Flüssig)-Nahrung, ggf. Sondenernährung oder parenterale Ernährung notwendig

Empirisch wurde beobachtet, dass zu viel einfache Zucker (rascher Blutzuckeranstieg) die Fatigue verstärken kann.

Supplemente

Die Wirksamkeit einiger Supplemente wurde allenfalls in kleineren, meist nicht-verblindeten Studien untersucht, sodass eine mögliche individuelle Wirksamkeit offen bleibt. Positive oder negative Erfahrungsberichte sind kritisch zu hinterfragen, da aufgrund der Fluktuation des Beschwerdebildes eine Einschätzung der Wirksamkeit schwierig ist.

Die folgenden Empfehlungen stützen sich auf Expert*innenerfahrung:

  • Bei Mangelzuständen

    • Vitamin D, Eisen, Folsäure, B12, Zink, Selen, Phosphat (Phosphat über Milchprodukte und Nüsse)

  • Auch ohne Labordiagnostik

    • Vitamin B-Komplex hochdosiert für 4 Wochen

    • Eiweiß/Aminosäuren: als Pulver ergänzend 0,5g/kgKG/Tag

Empfehlungen basierend auf Studien und Expert*innenerfahrung:

Es gibt viele weitere Supplemente und Nahrungsergänzungsmittel, für die es meistens jedoch kaum Daten aus klinischen Studien gibt. Für weiterführende Informationen verweisen wir auf eine aktuelle Übersicht, in der die Erfahrungen von fast 4.000 Patient:innen zu 150 Medikamenten und Nahrungsergänzungsmitteln dokumentiert sind. Den Bericht sowie den Appendix mit der vollständigen Liste finden Sie unter folgendem Link: https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2426874122

CAVE: Supplemente ersetzen keine medikamentösen Therapien.

→ Tipps und Tricks:

Viele Pat. nehmen aufgrund von (Internet-)Empfehlungen Supplemente ein. Bitte bedenken:

  • Einnahme probatorisch jeweils für vier Wochen, bei guter Verträglichkeit und Besserung der Symptome auch länger

  • Immer nur ein Supplement nach dem anderen einführen, um Wirksamkeit unabhängig voneinander zu prüfen

  • Supplemente teils sehr kostenintensiv

  • Nur einige sind in Therapiestudien geprüft

  • Dosierungsempfehlung einiger Präparate weit über üblich empfohlenen Mengen

  • Bei Verordnung über Medikationsplan Selbstzahler-Leistung steuerlich absetzbar

Weitere (experimentelle) Therapieansätze und Studien (Auswahl)

Immunadsorptionsapherese (IA)

Mittels Adsorption werden Immunglobuline aus dem Blut gewaschen. Eine Wirksamkeit konnte bei einer Subgruppe von Betroffenen mit autoimmun-vermitteltem ME/CFS in nicht placebokontrollierten Studien sowohl bei nicht COVID-assoziiertem ME/CFS als auch bei COVID-assoziiertem ME/CFS (PCS mit ME/CFS) belegt werden.

Große körperliche Belastung, sowohl durch stark invasives Verfahren als auch durch den damit verbunden Aufwand (Transport, ggf. stationäre Unterbringung etc.), daher nur ab einem gewissen Bell-Score (Empfehlung Bell ≥ 30) durchführbar.

Charakteristika der Subgruppe, die ggf. von einer Immunadsorption profitieren kann (Expert*innenmeinung):

  • Postinfektiöses ME/CFS

  • Familienanamnese mit Autoimmunerkrankungen 

  • Erhöhte ANAs

  • und GPCR-AK erhöht 

CAVE: Massive Zustandsverschlechterungen nach IA anekdotisch berichtet.

Weiterführende Informationen:

C. Scheibenbogen et al. 2020: Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: Efficacy of Repeat Immunoadsorption. https://doi.org/10.3390/jcm9082443

E. Stein et al. 2023: Observational Study of Repeat Immunoadsorption (RIA) in Post-COVID ME/CFS Patients with Elevated ß2-Adrenergic Receptor Autoantibodies—An Interim Report. https://doi.org/10.3390/jcm12196428

RCT: https://clinicaltrials.gov/study/NCT05710770

Hyperbare Sauerstofftherapie (hyperbaric oxygen therapy; HBOT)

In einer Druckkammer wird unter erhöhtem Druck 100 % Sauerstoff mittels Maske verabreicht. Ziel ist es, eine verbesserte Oxygenierung des Gewebes zu erreichen. Kleinere Studien konnten eine Wirksamkeit der Begleitsymptomatik von Fibromyalgie (bzgl. Fatigue, kognitive Störungen, Schlafstörungen und Schmerzen) nachweisen. Bisher nur kleine, nicht verblindete Studien bei ME/CFS vorliegend.

Weiterführende Informationen:

S. Akarsu et al. 2013: The efficacy of hyperbaric oxygen therapy in the management of chronic fatigue syndrome. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/23682549/

X. Chen et al. 2022: Efficacy and safety of hyperbaric oxygen therapy for fibromyalgia: a systematic review and meta-analysis. https://doi.org/10.1136/bmjopen-2022-062322

ME/CFS-Studie: https://clinicaltrials.gov/study/NCT06118138

Nikotin, low-dose transkutan

Anekdotische Evidenz einer Wirksamkeit von Nikotin-Pflastern bei Long-COVID- Betroffenen. Keine RCT bisher vorliegend, keine Studien bezüglich ME/CFS. Die zugrundeliegende Hypothese geht von einer krankheitsbedingt gestörten cholinergen Transmission aus, die durch die Gabe von Nikotin normalisiert werden soll. Es gibt diverse positive → Patientenberichte im Internet, aber Studien stehen noch aus.

CAVE: Zustandsverschlechterungen unter Anwendung anekdotisch berichtet.

Weiterführende Literatur:

M. Leitzke et al. 2024: Long COVID – a critical disruption of cholinergic neurotransmission? https://doi.org/10.1186/s42234-025-00167-8

HELP-Apherese (Heparin-induzierte extrakorporale LDL-Präzipitations-Apherese)

Eine Form der Blutwäsche, bei der Lipoproteine aus dem Blut entfernt werden. Bisher nur Fallstudien zu Post-COVID-Syndrom veröffentlicht. Es bestehen keine Studien zu ME/CFS und keine placebokontrollierten Studien bei Post-COVID-Syndrom.

Weiterführende Literatur:

B. Jaeger et al. 2023: Long Covid Patients Successfully Treated by Means of Heparin-Mediated Extracorporeal LDL Precipitation (H.E.L.P.) Apheresis. https://doi.org/10.29011/2577-1515.100216

Transkutane Vagusnerv-Stimulation (tVNS)

Verfahren, bei dem transdermal eine Stimulation des Vagusnervs durch elektrische Impulse stattfindet. Über kleine Elektroden werden die Impulse durch Stimulation am Ohr auf afferente Vagusäste übertragen. Studien zu PoTS bei Post-COVID-Syndrom sind bereits erfolgt, empirische Hinweise auch auf Wirksamkeit bei Fibromyalgie. Noch keine abgeschlossenen Studien zu ME/CFS vorliegend.

Weiterführende Informationen:

Z. Wang et al. 2024: Tragus Nerve Stimulation Attenuates Postural Orthostatic Tachycardia Syndrome in Post COVID‐19 Infection. https://doi.org/10.1002/clc.70110

Long-COVID- / ME/CFS-Studie: https://clinicaltrials.gov/study/NCT06585254

Aktuelle Studien

Folgende Register und Seiten können bei der Suche nach aktuellen Studien hilfreich sein:

Pat. mit schwerem und schwerstem ME/CFS

Ausführliche Informationen zur Versorgung Schwerstbetroffener: Montoya et al. 2021
Versorgung von Pat mit schwerem MECFS (Deutsche Übersetzung des Artikels).

Schätzungen zufolge sind ca. 25 % aller ME/CFS-Patienten einem schweren (hausgebunden) bis schwersten (bettgebunden) Schweregrad zuzuordnen. Der Bell-Score beträgt ≤ 20. Es ist davon auszugehen, dass viele dieser Pat. aufgrund der schweren Beeinträchtigungen und aufgrund des Risikos einer durch Kommunikation, Transport, diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen provozierten Zustandsverschlechterung keinen Zugang zur regulären Gesundheitsversorgung haben. Es gibt deutschlandweit keine auf schweres und schwerstes ME/CFS spezialisierten stationären Unterbringungsmöglichkeiten.

Die klinische Präsentation Schwerstbetroffener kann interindividuell variieren. Charakteristisch ist eine extreme Kraftlosigkeit bis hin zur absoluten Bettlägerigkeit, eine massive Reizsensitivität mit Notwendigkeit der Reizabschirmung, schwere neurokognitive Symptome, schwere Schlafstörungen, teilweise eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit und hoher Pflegebedarf. In sehr schweren Fällen kann aufgrund von Schluckstörungen oder genereller Entkräftung keine ausreichende Kalorienzufuhr bestehen. Diese Pat. benötigen eine zusätzliche Kalorienzufuhr, ggf. über Sondenernährung bis hin zu parenteraler Ernährung (z. B. bei gleichzeitigem Auftreten einer Gastroparese).

Die extreme Reizsensibilität und teilweise sehr starken Schmerzen Schwerstbetroffener können den Einsatz von Sedativa und starker Analgetika nötig machen (z. B. Lorazepam oder Opiate). Empirisch beobachtet werden dabei regelmäßig paradoxe Reaktionen sedierender Maßnahmen. Durch verminderten „Brain Fog“ und Reizsensibilität „klaren“ die Betroffenen unter sedierender Medikation auf und können ggf. ein minimales Aktivitätsniveau (z. B. Bedienung eines Smartphones zur Kommunikation) aufrechterhalten.

Um eine genauere Beschreibung des Zustands sehr schwer Betroffener zu ermöglichen, erfolgte 2024 der Vorschlag einer weiteren Unterteilung von schwersten Schweregraden.

Vorschlag einer möglichen Differenzierung schwerer und schwerster Verlaufsformen von ME/CFS. Quelle: Jahanbani et al. 2024

Bei der Versorgung von Pat. mit schwerem oder schwerstem ME/CFS gilt Folgendes zu beachten:

  • Aufklärung der Betroffenen und ihrer Betreuungs- und Pflegepersonen zu sehr schwerem ME/CFS. Informationsmaterial (Artikel→ Montoya et al. 2021 in deutscher Übersetzung) aushändigen, um Krankheitsmechanismus zu verstehen und weitere Zustandsverschlechterungen soweit möglich zu vermeiden.

  • Pat. sind hausgebunden, in höherem Schweregrad bettgebunden: Vorstellung in Praxis überwiegend nicht möglich oder mit Risiko der Zustandsverschlechterung verbunden.

    • Hausbesuch oder Video-/telefonische Sprechstunde, den Kapazitäten der Pat. angepasst. Falls nötig, Kontakt über pflegende Personen

    • Bei unvermeidbarem stationären Aufenthalt / Diagnostik: Liegendtransport organisieren, kurze Wartezeit und möglichst reizarme Umgebung, ggf. Sedierung während des Transports

  • Ausreichend Unterstützung vorhanden? CAVE: Pflegegrad und GdB ist teilw. dem Zustand der Pat. nicht angemessen.

  • Benötigte Hilfsmittel vorhanden (z. B. Rollstuhl, Pflegebett, Bettpfanne, Toilettenstuhl etc.)? 

  • Teilweise Schwierigkeiten bei Nahrungsaufnahme und Verdauung: Unterstützung bei der Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme (b. B. pürierte Kost, hochkalorische Trinknahrung, Sondenernährung oder parenterale Flüssigkeitszufuhr und Ernährung).

  • Reizabschirmung beachten. Bei Untersuchung und Pflege: Licht, Geräusche/Sprache sowie taktile Reize und Gerüche minimieren.

  • Starke neurokognitive Einschränkungen: Informationen, Therapieplan und Medikationsplan schriftlich festhalten.

  • Hausnotruf oder Smartwatch mit Notruffunktion in Erwägung ziehen.

  • Heimunterbringung schwer realisierbar, da klassische Pflegeheime oder Seniorenunterkünfte nicht auf die spezifischen Anforderungen ausgelegt sind.

  • Unterstützung durch spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) in Erwägung ziehen. In LongCOV-Versorgungs-RL (auch für ME/CFS) vorgesehen.

Vorgehen bei akutem Krankheitsschub (PEM) 

Bei schwerer PEM (oft durch Überlastung oder Infekt ausgelöst):

Diagnostik: Andere akute Ursachen ausschließen (CRP, E’lyte mit Phosphat, TSH, Krea, Blutbild, Leberwerte, Cortisol)

Allgemeine Maßnahmen

  • Viel Ruhe und Reizabschirmung.

  • Viel Flüssigkeit. Bis nachmittags 3 l trinken (in kleineren Dosen z. B. alle 15 Minuten etwas) oder langsame Infusionen, zusätzlich Salziges essen (nicht bei Hypertonus).

  • Lagerung: Tagsüber Beine leicht erhöht, beim Schlafen den Oberkörper erhöht lagern, um Schwellungen der Atemwegs-Mukosa zu vermeiden. CAVE: Oberkörperhochlagerung kann bei Schwerstbetroffenen PEM auslösen.

  • Temperaturschwankungen vermeiden, da zusätzlicher Energiebedarf. Oft subfebril (dann ggf. Ibuprofen, Paracetamol oder Novamin s. u.), bei Frieren Decken/Wärmekissen.

  • Falls zu schwach zum Essen: pürierte Nahrung oder hochkalorische und eiweißreiche Trinknahrung.

Medikamentöse Therapie

Gegen akute Beschwerden:

  • Lorazepam. CAVE: Schnelle Toleranz- und Abhängigkeitsentwicklung. Bei ME/CFS-Pat. empirisch oft paradoxe Reaktion: wirkt dann nicht sedierend, sondern gegen Brain Fog und weitere PEM-Symptome, Patienten „klaren“ regelrecht auf.

  • Bei Schmerzen: Ibuprofen, Paracetamol oder Novaminsulfon 3 – 4 x tgl. im Wechsel möglich.

Bei infektiösem Auslöser:

  • Antimikrobielle oder antivirale Therapie

Weiterführende Informationen:

J. G. Montoya et al. 2021: Caring for the Patient with Severe or Very Severe Myalgic Encephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrome. doi: 10.3390/healthcare9101331. PMID: 34683011; PMCID: PMC8544443. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8544443/

Deutsche Übersetzung des Artikels von Montoya et al.: https://www.mecfs.de/wp-content/uploads/2023/04/Versorgung-schweres-MECFS-deutsch.pdf

Infektionsprophylaxe, Infektionsmanagement und Impfungen

Jede Infektion kann PEM auslösen, daher:

  • Konsequente Infektionsprophylaxe: Impfungen, allg. hygienische Maßnahmen, FFP2- oder FFP3-Maske zum Schutz der Pat., ggf. Luftfilter.

  • SARS-CoV-2-(Re-)Infektion:

    • Ggf. Paxlovid®. Kassenübernahme für Risikogruppen. Medikamenten-Interaktionen beachten.

    • Alternativ ggf. Metformin „off Label“ innerhalb der ersten 6 Tage nach Symptombeginn (bessere Ergebnisse bei Start innerhalb der ersten 3 Tage), Long-COVID-protektive Wirkung mit einer Risikoreduktion von ca. 40 % und Senkung der Viruslast in Studien belegt.

  • Bei sonstigen Infektionen adäquate ursächliche und symptomatische Therapie (bei häufigen Infekten: gezielte Erreger Diagnostik).

  • CAVE: Meidung von Fluorchinolonen, Nebenwirkungsprofil ähnlich den Symptomen von ME/CFS beschrieben. S.→ Rote-Hand-Brief

  • Bei häufigen Herpesrezidiven: Behandlungsversuch mit Valaciclovir p. o.

  • Dokumentation von Zustandsverschlechterungen.

Impfempfehlungen bei ME/CFS

Es gibt keine Studien zu Impfauswirkungen bei bestehendem ME/CFS. Alle folgenden Aussagen basieren auf Empirie und Rationale.

Da Infektionen drastische, auch dauerhafte, Zustandsverschlechterungen auslösen können, ist eine allgemeine Infektionsprophylaxe mittels Impfung, soweit diese bisher gut vertragen wurden, empirisch zu befürworten. Der Impfstatus sollte regelmäßig überprüft werden und Impfungen nach STIKO durchgeführt werden.

Dies gilt insbesondere auch für SARS-CoV-2-Vakzinen. Hier konnte eindeutig belegt werden, dass diese das Risiko postinfektiös an Long COVID zu erkranken senken können. Es ist anzunehmen, dass sie somit Prozesse verhindern, die auch in der Genese und Aufrechterhaltung von ME/CFS eine Rolle spielen könnten. Betroffene können als chronisch Erkrankte jährlich aufgefrischt werden. Dies gilt auch für das Umfeld der Betroffenen, die als Angehörige oder pflegende Personen gemäß STIKO-Empfehlung mit schwer chronisch erkrankter Person in einem Haushalt leben oder in engem Kontakt stehen.

Bei ME/CFS-Pat., die ME/CFS nach Impfung entwickelt haben, sollte eine individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung stattfinden.

→ Tipps und Tricks:

  • Für frühzeitige Diagnosestellung von COVID-19-/Influenza-Infektionen: Pat. raten, mehrere (Kombi-)Selbsttests vorzuhalten.

Physiotherapie und Ergotherapie

Physiotherapie

→ Merke: In Physiotherapie und Reha übliche Konzepte mit gradueller Leistungssteigerung (graded exercise therapy, GET, s. a. → Pacing vs. GET) sind bei ME/CFS kontraindiziert. Sie können PEM und ggf. langfristige Verschlechterungen des Gesundheitszustandes auslösen.

  • Physiotherapie:

    • Nur nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Bewertung

    • Nicht zulasten eines effektiven Pacings. Es gilt der Grundsatz „Pacing first“

    • Nur mit entsprechender Anpassung und Berücksichtigung von PEM (individuell angepasst z. B. nur vorsichtige passive Mobilisation der Gelenke oder Übungen im Sitzen)

    • Nur durch ME/CFS-geschulte Therapeut*innen

  • Auf Verordnung zusätzlich „Vorsicht: Belastungsintoleranz/PEM“ schreiben und → Infoblatt Physiotherapie mitgeben (Kurzinfo: s. Infobox)

  • Hausbesuche verordnen, wenn ggf. bereits der Weg in die Praxis/Aufenthalt in den Praxisräumen zu PEM führen kann

  • Besondere Vorsicht bei schwer Erkrankten: kleinste Reize (Berührung, Licht, Geruch) oder Mobilisierungen können PEM auslösen. Ausführliche Informationen: Übersetzung des Artikels von Montoya et al. 2021 zur → Versorgung von schwer Erkrankten

  • Besonderer Verordnungsbedarf bei Long/Post-COVID s.→ Infos der Kassenärztlichen Bundesvereinigung

  • Pat. und Therapeut*innen auf notwendige Maßnahmen zum Infektionsschutz hinweisen (Masken, ggf. Luftfilter)

GET (graded exercise therapy) mit stufenweise zunehmender Trainingsintensität vs. Pacing. Abbildung der DG.MECFS

Kurzinfo Physiotherapie

Weitere Informationen: → Infoblatt Physiotherapie, ausführliche Infos (auf Englisch) auf: „Physios for ME“, Buchempfehlung: A physiotherapist‘s guide to understanding  and managing ME/CFS“; ISBN 978-1-83997-143-3.

  • Graded exercise therapy (GET) ist bei ME/CFS gemäß Leitlinien kontraindiziert!

  • Keine Aktivierung, keine Versuche, die Belastungsgrenzen auszuweiten, da dies PEM provozieren kann. Dies erfordert Umdenken aller Beteiligten.

  • Therapie an die pathologischen Grenzen, individuelle Symptomatik und Tagesform anpassen:

    • Je nach Schweregrad und Beschwerden z. B. nur passive Mobilisation, physikalische oder manuelle Therapie, Übungen im Liegen/Sitzen, usw.

    • Ggf. verkürzte Behandlungsdauer

    • Auf Warnzeichen für Überlastung achten (z. B. Änderung der Gesichtsfarbe, Körperhaltung, Verlangsamung, Konzentrationsstörungen etc.), und Pat. nach Symptomen fragen: b. B. Pause oder Abbruch

    • Pausen während der Behandlung

    • Am Folgetermin fragen, wie es Pat. an den Tagen nach der Therapie ging (PEM?) und Behandlung b. B. anpassen

  • Pacing per Herzfrequenz: Es besteht die Möglichkeit, bei körperlicher Aktivität die Herzfrequenz zu überwachen, um unterhalb der anaeroben Schwelle zu bleiben:

    • Grob abschätzende Formel: [220 – Lebensalter] × 0,6 = max. Herzfrequenz

    • Nicht anwendbar bei ausgeprägter OI oder PoTS.

Ergotherapie und Logopädie

Es liegen keine Studien zu Ergotherapie oder Logopädie bei ME/CFS vor.

Ergotherapie kann ggf. sinnvoll sein, um z. B. Pacing-Strategien zu erlernen: Aktivitäten des Alltags an die Bedürfnisse angepasst zu gestalten, z. B. durch Zerlegung in Teilschritte, Nutzung von Hilfsmitteln, angepasste Körperhaltung (in sitzender/liegender Position) etc.

Auch hier gilt:

  • Nur nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Bewertung (sowohl Weg als auch Therapie an sich können PEM auslösen)

  • Nicht zulasten eines effektiven Pacings

  • Nur mit entsprechender Anpassung und Berücksichtigung von PEM

  • Nur durch ME/CFS-geschulte Therapeut*innen

  • Es gilt der Grundsatz „Pacing first“

 Hinweise für die Praxis:

  • Therapeut*innen sind üblicherweise nicht für ME/CFS, PEM und Pacing sensibilisiert → Infoblatt Physiotherapie mitgeben (ist sinngemäß auf Ergotherapie anwendbar)

  • Auf Verordnung zusätzlich: „Vorsicht: Belastungsintoleranz/PEM“ schreiben

  • Besonderer Verordnungsbedarf bei Long/Post-COVID s. → Infos der Kassenärztlichen Bundesvereinigung

  • Pat. und Therapeut*innen auf notwendige Maßnahmen zum Infektionsschutz hinweisen (beidseitig Masken, ggf. Luftfilter)

 Ein Nutzen von ergotherapeutischem Hirnleistungstraining ist bei ME/CFS bislang nicht durch Studien belegt. Es besteht ein deutliches Risiko der Provokation einer PEM durch kognitive Überlastung, da das Training kognitiv stark fordernd ist. Mögliche vermeintlich positive und negative Effekte können auch auf eine Fluktuation des Beschwerdebildes zurückzuführen sein.

  • VO sollte nur nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Bewertung in gemeinsamer Entscheidungsfindung mit Pat. erfolgen und nach Ausschöpfung aller therapeutischer Maßnahmen, die die allgemeine Symptomlast senken und auch zu einer Besserung der kognitiven Beschwerden führen können. Siehe → Kognitive Einschränkungen

  • Nicht zulasten eines effektiven (kognitiven) Pacings

  • Nur mit entsprechender Anpassung und Berücksichtigung von PEM

  • Es gilt der Grundsatz „Pacing first“

Alternative: Pat. können in Eigenregie und ihren individuellen Kapazitäten entsprechend hirnleistungsfordernde Aktivitäten zu Hause durchführen (im Rahmen von Hobbys, Handarbeiten etc.).

Logopädie (bislang noch keine ME/CFS-Studien) kann in der Diagnostik von Schluckstörungen eingesetzt werden und ggf. Schwerkranke mit Schluckstörungen und Kommunikationsproblemen unterstützen. Wegen der Erkrankungsschwere Hausbesuche nötig.

Coping-Strategien bei chronischer Erkrankung

ME/CFS-Erkrankte müssen u. a. mit Folgendem umgehen:

  • Schwere, die Lebensqualität stark beeinträchtigende Erkrankung, für die es zurzeit noch keine Heilung gibt

  • Verlust von Autonomie und Fähigkeiten

  • Verlust von Hobbys und sozialer Interaktion

  • Gesellschaftliche und persönliche Erwartungen können nicht mehr erfüllt werden (bzw. der Versuch, diese zu erfüllen, führt ggf. zu PEM)

  • Umfeld reagiert ggf. mit Unverständnis, Stigmatisierung oder Ausgrenzung (Diskriminierung)

  • Teils Jahre bis zur richtigen Diagnosestellung, oft in Verbindung mit Fehldiagnosen und Fehltherapien, die ggf. weiter zur Verschlechterung führen können

  • Zunehmende soziale Isolation

  • Finanzielle Sorgen und erhöhtes Armutsrisiko

  • Teils langwierige und kräftezehrende Bemühungen um Anerkennung von Pflegegrad, Grad der Behinderung, Erwerbsminderung und Kostenübernahme von Therapien (z. B. Off-Label-Medikamente)

  • Sorgen und Trauer, u. a. über die oben genannten Punkte

Für den Krankheitsprozess kann es u. a. hilfreich sein, wenn die Pat.:

  • Adäquate symptomatische Therapie erhalten

  • Ausreichend Informationen über ME/CFS erhalten, inkl. umfassender Aufklärung über Energiemanagement (Pacing) und Therapieansätze, die auf Symptomlinderung abzielen

  • Pacing erlernen; ggf. dabei Unterstützung erhalten (z. B. durch Physio-, Ergo- oder Psychotherapie – sofern Therapeut*innen mit ME/CFS und Pacing vertraut sind)

  • Selbstfürsorge und Gefühl für Belastungsgrenzen entwickeln

  • Austausch mit anderen Betroffenen haben (Selbsthilfegruppen)

  • Bei Bedarf supportive Psychotherapie erhalten

  • Verständnis und Akzeptanz sowie empathische psychosoziale Unterstützung seitens Ärzt*innen, Therapeut*innen und Pflegepersonal erfahren

  • Ärzt*innen als hilfreiche und sichere Anlaufstelle wahrnehmen

Wie können Sie als Ärzt*in bei der Krankheitsverarbeitung unterstützen?

  • Unterstützen Sie – soweit möglich – bei den oben genannten Punkten.

  • Nehmen Sie die Betroffenen ernst. Hören Sie mitfühlend und verständnisvoll zu, lassen Sie Pat. ihre Emotionen und Sorgen ausdrücken.

  • Fragen Sie im Krankheitsverlauf auch immer wieder nach dem psychischen Befinden (CAVE: Suizidalität).

  • Geben Sie keine unrealistischen (Heil-)Versprechen, aber lassen Sie Raum für Hoffnung.

Rehabilitation und Wiedereingliederung

Rehabilitation

Bislang gibt es deutschlandweit keine ME/CFS-spezialisierten Reha-Abteilungen außerhalb von Pilotprojekten (z. B. CFS_CARE-Pilotprojekt in Kreischa, Sachsen).

Übliche Reha-Konzepte stoßen bei ME/CFS- und Post-COVID-Pat. an Grenzen bzw. können kontraproduktiv sein. Laut einer Studie von Hammer et al. 2024 unter erwachsenen PCS-Erkrankten zu Erfahrungen mit stationärer Rehabilitation berichteten über 50 % von Zustandsverschlechterung (teilweise auch dauerhaft) v. a. durch:

  • Keine Berücksichtigung von PEM

  • Kraft- und Ausdauertraining

  • Gemischte Gruppen

  • Zu umfangreiche Behandlungspläne

Evidenzbasierte Grundlagen von ME/CFS und PCS sind unter Gutachter*innen/Sachbearbeiter*innen noch wenig bekannt. In Folge werden Pat. teilweise in Kliniken mit ungeeigneten Schwerpunkten zugewiesen (z. B. Psychosomatik).

Aber auch Kliniken mit ausgewiesenem ME/CFS- oder PCS-Schwerpunkt sind nicht unbedingt geeignet, denn:

  • Mitarbeiter*innen sind weiterhin teilweise nicht über PEM und Pacing adäquat aufgeklärt. In Folge wird Pacing in Behandlungsplan und Therapiestunden nicht berücksichtigt – geschweige denn als Inhalt der Therapie vermittelt.

  • Therapeutische Angebote finden meist in gemischten Gruppen statt (Pat. mit ME/CFS haben spezifische Beeinträchtigungen und Bedürfnisse, die mit keiner anderen Patientengruppe vergleichbar sind).

  • Reha-Alltag und -Programm sind nicht auf die Bedürfnisse abgestimmt.

  • Bei ME/CFS und PCS sind unterschiedliche Organsysteme betroffen, aber Kostenträger sehen oft abteilungsübergreifende Behandlungen nicht vor.

Laut S2k-Leitlinie COVID-19 und (Früh-) Rehabilitation sollten vor Reha das Vorliegen von PEM abgefragt werden und bei Vorliegen während der Reha PEM beachtet, dokumentiert und die Therapie entsprechend angepasst werden. Ab Bell-Score ≤ 30 ist von einer Rehaunfähigkeit auszugehen. Laut Rückmeldung mehrerer Reha-Chefärzt*innen ist eine Reha bereits unter Bell-Score 50 – 60 schwierig durchzuführen und sollte überdacht werden – zumindest unter den aktuellen Rahmenbedingungen.

Sollte eine Reha dennoch angestrebt werden, sind folgende Ziele zu fordern:

  • Symptomorientierte, evidenzbasierte Therapie

  • Evidenzbasierte Patientenedukation

  • Pacing erlernen und therapeutisch adressieren

  • Keine ansteigende Aktivierungstherapien (graded exercise therapy, GET), kein Versuch die Belastungsgrenzen auszuweiten, keine psychotherapeutischen Verfahren mit kurativer Absicht in Bezug auf ME/CFS und keine Therapien, die von dysfunktionalen Gedankenmustern oder Dekonditionierung als ursächliche oder aufrechterhaltende Faktoren von ME/CFS ausgehen (NICE 2021, IQWiG 2023)

  • Individuelle Therapiepläne mit Anpassung an Tagesform (dies beinhaltet Pausen, Absagen von Stunden und Ruhetage ohne großen bürokratischen Aufwand)

  • Unterstützung bei Krankheitsbewältigung

  • Krankheitsverlauf und Allgemeinzustand sollten verbessert werden

  • Realistische Abbildung der Arbeitsfähigkeit unter Angabe von Bell-Score, Schweregrad der Erkrankung, individueller Einschränkungen und vor allem auch unter Berücksichtigung der maximalen Kapazitäten unterhalb der Auslösung von PEM sowie der Notwendigkeit von Pacing in allen Lebensbereichen

Faktoren, die zu einer Überlastung und (ggf. dauerhaften) Zustandsverschlechterung während einer Reha führen können:

  • Vorbereitung und Anreise

  • Zu hohe kognitive Anforderungen (z. B. Fragebögen, Anamnesegespräche, Orientierung in neuem Umfeld)

  • Lange Wege in der Klinik

  • Keine Abschirmung möglich (z. B. Geräuschkulisse im Speisesaal)

  • Wenig flexible Therapiepläne (Erfüllung von Reha-Mindestanforderungen)

  • Keine Pausen für Erholung

  • Strikte Tagesplanung (nicht ausreichend Schlaf, keine Adaptation an fluktuierende Symptomatik möglich)

  • Unzureichende Kenntnisse zum Krankheitsbild vonseiten der Behandler*innen und des Klinikpersonals

  • Fehldiagnosen (z. B. Burnout, Depression, somatoforme Störung) und in Folge Fehlbehandlungen

→ Tipps und Tricks für die Praxis:

  • Prüfung auf PEM und Reha-Fähigkeit (Bell-Score, ggf. plus FUNCAP) vor Beginn der Rehabilitation.

  • Arztbrief mitgeben, in dem ausführlich Bell-Score und der dokumentierte Schweregrad der Erkrankung sowie die notwendige Berücksichtigung von PEM erfasst sind.

  • Kontrolle des Bell-Scores nach Reha-Maßnahme, um Effektivität der Maßnahme zu prüfen und ggf. resultierende Zustandsverschlechterungen zu dokumentieren.

  • Pat. raten, im Vorfeld zu klären, welche Einrichtung die oben genannten Punkte erfüllt, diese als „Wunschklinik“ im Reha-Antrag angeben.

  • Pat. empfehlen, darum zu bitten, Fragebögen schon vorab zuzuschicken und ausführliche Anamnese möglichst erst am Tag nach der Anreise durchzuführen.

Weiterführende Informationen:

S2k-LL COVID-19 und (Früh-) Rehabilitation: https://register.awmf.org/assets/guidelines/080-008l_S2k_COVID-19-und-Frueh-Rehabilitation_2024-01.pdf

Hammer et al. 2024: Der Reha-Gedanke muss bei dieser Erkrankung völlig neu gedacht werden. https://www.zefq-journal.com/article/S1865-9217(24)00092-8/fulltext

Wiedereingliederung

→ Merke: Es gilt: „zu früh, zu viel, zu schnell = PEM“

Eine Wiedereingliederung ins Berufsleben ist meist nur bei Pat. mit mildem ME/CFS (ca. 25 % der Erkrankten), oft nur in Teilzeit und einhergehend mit einem Verzicht auf Aktivitäten des täglichen Lebens aufgrund der dann für berufliche Aktivitäten benötigten Ressourcen möglich.

Aufgrund der Vielschichtigkeit und variablen Ausprägungen der Erkrankung ist es nicht möglich, allgemeingültige Empfehlungen zur Wiedereingliederung zu geben.

Vielmehr ist die positive Selbsteinschätzung der Betroffenen in Bezug auf eine mögliche und erfolgreiche Wiedereingliederung in den Beruf unbedingte Voraussetzung, um eine solche erfolgversprechend anzugehen.

Wichtigste Ressourcen im Rahmen der Wiedereingliederung ist eine gefestigte Fähigkeit zum Pacing, um unter Einhaltung der pathologischen Belastungsgrenze eine (ggf. dauerhafte) Zustandsverschlechterung zu vermeiden. Dazu gehören u. a.:

  • Die Selbsteinschätzungsfähigkeit, was Trigger für PEM angeht

  • Eine gute Selbstwahrnehmungsfähigkeit in Bezug auf (sich anbahnende) Symptome und Überlastungen

  • Ausreichende Krankheitseinsicht

Die dauerhaft erheblich verminderte Belastungsfähigkeit der Pat. und die Notwendigkeit zum strikten Energiemanagement stehen evtl. in Konflikt mit:

  • Ansprüchen, die Pat. an sich selbst haben

  • Druck durch Arbeitgeber, pers. Umfeld der Pat. sowie Krankenkasse/ Rentenversicherungsträger

  • Finanzielle Situation der Pat.

  • Schneller Wiedereingliederung

Was Hausärzt*innen für das Gelingen der Wiedereingliederung tun können:

  • Klären: positive Selbsteinschätzung der Betroffenen in Bezug auf eine mögliche und erfolgreiche Wiedereingliederung in den Beruf?

  • Gute Pacing-Fähigkeit? Evaluation des Verlaufs, Umgang mit Crashs/Zustandsverschlechterungen

  • Grad der Behinderung adäquat? Ggf. arbeitsrechtlich relevante Gleichstellung mit Schwerbehinderung erfolgt?

  • Engmaschige Begleitung der Wiedereingliederung (Videosprechstunde möglich, um Wege zu sparen)?

  • Kontakt mit Arbeitsmedizin zu Beginn und im Verlauf mit Weitergabe der medizinisch relevanten Verlaufsinformationen bei Schweigepflichtsentbindung

Zum Arbeitsplatz:

  • Es sollte geklärt werden, inwiefern Pat. bezüglich der Offenlegung ihrer Erkrankung von der ärztlichen Schweigepflicht entbinden (z. B. vor Weitergabe des → Infoblatts für Arbeitgebende).

  • Im Vorfeld der Wiedereingliederung sollte in Erfahrung gebracht werden, wie das Berufliche Eingliederungsmanagement beim Arbeitgebenden organisiert ist. Im Rahmen des BEM-Verfahrens kann der/die zuständige Arbeitsmediziner*in hinzugezogen werden, am besten primär in einem vertraulichen Gespräch. So können weitere Möglichkeiten der Hilfestellung ausgelotet und eine realistische Zielsetzung erreicht werden.

  • Arbeitsplatz und Arbeitszeit müssen an die Bedürfnisse der Betroffenen (Reizabschirmung, Pausen, ggf. Homeoffice, kein Multitasking etc.) angepasst werden. Belastungsgrenzen sind nicht nur im Hinblick auf körperliche und kognitive Beanspruchung, sondern auch im Hinblick auf sensorische Reize und Stress jeder Art zu beachten. Hier können Rentenversicherungsträger mit Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben unterstützen sowie bei Vorliegen einer Schwerbehinderung das zuständige Integrationsamt.

Überlegungen vor und während einer Wiedereingliederung

Vor Wiedereingliederung zu prüfen:

  • Aktuelles Ausmaß der Funktionseinschränkung

    • Bell-Score zur groben Einschätzung der Funktionseinschränkung

    • Ggf. → FUNCAP55 (bzw. 27, zur Verlaufskontrolle). Der FUNCAP lässt sich online ausfüllen und auswerten und erlaubt eine differenziertere Einschätzung des Funktionsstatus und insbesondere der Auswirkungen von körperlichen oder kognitiven Aktivitäten, Belastungen durch Licht/Lärm usw.

    • Ggf. auch SF36 (z. B. für arbeitsmedizinische Untersuchungen)

    • Ggf. Belastungssituationen vorab erproben

  • Arbeitsplatzanamnese: Arbeitszeiten, zu leistende Arbeitsschwere (körperlich, kognitiv, psychisch), Form der Arbeitsorganisation (Schichtdienst?). Analyse der Arbeitshaltung (sitzend, stehend, stationär oder mobil), Gefährdungsbeurteilung (z. B. für Pat. mit Schwindel). Sonstige Belastungen (Publikumsverkehr, Zeitdruck, Licht/Lärm etc.)?

  • Anpassung des Arbeitsplatzes möglich? Z. B. Homeoffice möglich? Flexible Arbeits- und Pausenzeiten möglich? Verringerte Arbeitszeit möglich? Ruhepausen (ggf. mit Hinlegen in Ruheraum) möglich? Sitzen statt Stehen möglich? Beim Sitzen ggf. Hochlegen der Beine möglich? Infektionsschutz (z. B. Einzelzimmer, Luftfilter)

  • Adäquater GdB vorliegend? (Erweiterter Kündigungsschutz, mehr Urlaubstage)

  • Folgendes sollte vermieden werden: Tätigkeiten unter Zeitdruck, starke psychische oder kognitive Beanspruchung, Multitasking, hohe Verantwortung, Reizüberflutung wie Lärm, Licht, bewegte Bilder, Publikumsverkehr.

Während der Wiedereingliederung:

  • Behutsame Steigerung der Arbeitszeit bis max. unterhalb der Belastungsgrenze („zu früh, zu viel, zu schnell = PEM“).

  • Regelmäßige (Selbst-)Kontrolle des Gesundheits- und Funktionszustandes, z. B. mit dem FUNCAP-Fragebogen.

  • Bei Verschlechterung Stufenplan anpassen oder ggf. Maßnahme ganz abbrechen.

Weiterführende Literatur:

C. Scheibenbogen et al. 2023: Chronisches Fatigue Syndrom ME/CFS und Komorbiditäten – Begutachtung. https://doi.org/10.1007/978-3-662-61937-7_108-1

Codierung und Abrechnung

Wichtige ICD-10-Codes

  • Bei gesicherter Codierung G93.3G (ME/CFS) muss die charakteristische Symptomatik nicht explizit zusätzlich verschlüsselt werden.

  • Therapeutisch adressierbare Hauptsymptome können/sollten dennoch verschlüsselt werden, um z. B. entsprechende Verordnungen plausibel darzulegen.

  • Komorbiditäten sind eigenständige Erkrankungen und sollten zusätzlich codiert werden.

Übersicht über wichtige Codes der ICD-10

Grunderkrankung ICD-10
Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS) G93.3
Falls in Folge einer SARS-Cov-2 Infektion zusätzlich:
Covid-19 in der Eigenanamnese U08.9
Post-COVID-19-Zustand U09.9!
Falls in Folge einer COVID-19-Impfung zusätzlich:
Unerwünschte Nebenwirkungen bei der Anwendung
von COVID-19-Impfstoffen
U12.9!
Post-COVID-19-Zustand (ohne Erfüllung der Diagnosekriterien für ME/CFS) U09.9!
Unerwünschte Nebenwirkungen bei der Anwendung von COVID-19-Impfstoffen (ohne Erfüllung der Diagnosekriterien für ME/CFS) U12.9!
Multisystemisches Entzündungssyndrom in Verbindung mit
COVID-19
U10.9
Wichtige Komorbiditäten
Posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom (PoTS) G90.80
Orthostatische Hypotonie; Orthostatische Dysregulation I95.1
Fibromyalgie M79.70
Reizdarmsyndrom K58
Nahrungsmittelunverträglichkeiten T78.1
Hypermobiles Ehlers-Danlos-Syndrom (hEDS) Q79.6
Myofasziales Schmerzsyndrom M79.-
Small-Fiber-Neuropathie (SFN) G62.88
Sicca-Symptomatik M35.0
Endometriose N80.-
Migräne G43.-
Mastzell-Aktivierungssyndrom (MCAS) D89.-
Eosinophile Ösophagitis K20.0
Weitere wichtige ICD-10 Codes
Chronischer Schmerz R52.1
Kopfschmerzen R51
Motorische Funktionseinschränkung U50.-
Kognitive Funktionseinschränkung U51.-
Sonstige nicht näher bezeichnete Gedächtnisstörung
und/oder
Sonstige nicht näher bezeichnete Symptome, die das Erkennungsvermögen und das Bewusstsein betreffen
R41.3
und/oder
R41.8
Psych. Faktoren oder Verhaltensfaktoren bei anderenorts klassifizierten Krankheiten (z. B. bei Bedarf einer supportiven Psychotherapie) F54 + G93.3
Beachte: Bei Vorliegen von ME/CFS darf keine F48 verschlüsselt werden (Exklusionskriterium).

ICD-10 Diagnosen bei ME/CFS mit kognitiver Symptomatik

G93.3G
Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) gesichert.

R41.3
Gedächtnisstörung – zur Beschreibung kognitiver Beeinträchtigungen (z. B. Konzentrations- und Wortfindungsstörungen) ohne Hinweis auf hirnorganische Genese

R41.8
Sonstige kognitive Funktionsstörungen – optional bei weiterem Symptomumfang wie Reizempfindlichkeit, gestörte Informationsverarbeitung

F54
Psychische Belastung aufgrund schwerer körperlicher Erkrankung – nur bei begleitender Psychotherapie indiziert

Hinweis zur Verwendung im sozialmedizinischen Kontext:

Die Diagnose F06.7 („Leichte kognitive Störung“) ist bei ME/CFS oder Long COVID in der Regel nicht indiziert, da mit aktuellen Methoden individuell keine strukturelle hirnorganische Störung nachweisbar ist (in Studien gibt es darauf Hinweise). Die obigen ICD-Codes ermöglichen eine funktionale und nicht-stigmatisierende Beschreibung kognitiver Beeinträchtigungen im Rahmen der Grunderkrankung G93.3. Sie eignen sich zur Verwendung in Rentenanträgen, Gutachten, GdB-Bescheiden sowie für die Krankenkasse.

Abrechnung und EBM

  • Basierend auf der → LongCOV-RL wurden 5 neue GOP im EBM aufgenommen

  • Gültig seit 01.01.2025

  • EBM Kapitel IV, Abschnitt 37.8

  • Aktuell extrabudgetäre Vergütung

  • 37800, 37801, 37802 für praktische Ärztinnen, Fachärztinnen und Ärzt*innen ohne Gebietsbezeichnung

  • 37806 für spezialisierte ambulante Versorgung und Hochschulambulanzen

  • 30804 für Fallbesprechungen

  • Zu beachten: 37800 (10 min) und 37801 (8 min) werden in das Tagesprofil mit eingerechnet. Daher kann es bei Überschreitung des Tageszeitprofils zu einer Plausibilitätsprüfung kommen.

Indikationen gemäß § 2 LongCOV-RL:

  • Long COVID und Post-COVID-Syndrom

  • Long-COVID-ähnliche Symptome nach Impfung gegen SARS-Cov-2

  • Post-akute postinfektiöse Long-COVID-ähnelnde Erkrankung

  • ME/CFS unabhängig vom Krankheitsauslöser

Übersicht der bei ME/CFS, Long- bzw. Post-COVID-Syndrom sowie ähnlichen Krankheitsbildern anwendbaren GOP. Darstellung der DG.ME/CFS, basierend auf den Informationen des EBM, abrufbar unter https://ebm.kbv.de/.

37800 (164 Punkte; 20,33 Euro) Basis-Assessment durch den koordinierenden Arzt/die koordinierende Ärztin
Indikationen Gemäß §2 LongCOV-RL:
- Long COVID und Post-COVID-Syndrom
- Long-COVID-ähnliche Symptome nach Impfung
- Post-akute postinfektiöse Long-COVID-ähnelnde Erkrankung
- ME/CFS unabhängig vom Krankheitsauslöser
Inhalt Basis-Assessment mit ausführlicher, strukturierter Anamnese und ausführlicher körperlicher Untersuchung mit Erfassung des neurologischen, des funktionellen und des Ernährungsstatus
Abrechnung 1 x im Krankheitsfall (jährlich)
37801 (128 Punkte; 15,86 Euro) Zuschlag zur 37800 bei schwerer/komplexer Erkrankung
Indikationen Hinreichend begründeter Verdacht auf eine der folgenden:
- U09.9! Post-COVID-Zustand
- U10.9 Multisystemisches Entzündungssyndrom in Verbindung mit COVID-19
- U12.9! Unerwünschte Nebenwirkungen bei der Anwendung von COVID-19-Impfstoffen
- G90.80 Posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom (PoTS)
- G93.3 Chronisches Fatigue Syndrom inkl.: Chronisches Fatigue Syndrom bei Immundysfunktion, Myalgische Enzephalomyelitis, Postvirales (chronisches) Müdigkeitssyndrom
- I95.1 Orthostatische Hypotonie inkl. orthostatische Dysregulation

Zusätzlich erfordert:
+ schwere Funktionseinschränkung (ICD 10 U50.4-; U50.5 oder U51.2-)
und/oder
+ Bell-Score ≤ 30
und/oder
+ AU von mind. 4 Wochen
Inhalt Persönlicher Arzt-Patienten-Kontakt
+ fakultativ:
- eine strukturierte Ersterfassung einer OI und/oder PEM und/oder PoTS
- Durchführung weiterer Differenzialdiagnostik
- Beratung zu PEM und Pacing, Krankheitsbewältigung, Stressreduktion, Methoden therapeutisch begleiteter Aktivierung
Abrechnung Max. 2 x im Krankheitsfall (jährlich)
37802 (141 Punkte; 17,47 Euro) Zuschlag zur Versicherten- oder Grundpauschale für koordinierende Funktion
Inhalt Obligat:
- Koordination der med. Versorgung
- Übernahme der Rolle der zentralen Ansprechperson
- Erstellung/Aktualisierung/Bereitstellung eines Behandlungsplans
- ÜW an mindestens einen weiteren (fachärztlichen oder ambulant spezialisierten) Vertragsarzt bzw. Vertragsärztin
und/oder
- VO von Heilmitteln im Zusammenhang mit einer Indikation gemäß §2 LongCOV-RL
Abrechnung 1 x im Behandlungsfall (pro Quartal)
37804 (86 Punkte; 10,66 Euro) Fallbesprechung
Inhalt Obligat:
- Pat.-orientierte Fallbesprechung mit weiteren Fachdisziplinen und/oder komplementären Berufen (Pflegekräfte, pflegende Angehörige)
- Auch telefonisch oder per Videokonferenz möglich
Abrechnung Max. 5 x im Krankheitsfall (jährlich)
37806 (219 Punkte; 27,14 Euro) Pauschale für spezialisierte ambulante Versorgung/Hochschulambulanzen
Voraussetzungen - Erfüllung der Kriterien nach § 3 Absatz 4 LongCOV-RL
- ÜW durch Vertragsarzt bzw. -ärztin
Inhalt - Unterstützung der haus- oder fachärztlichen Versorgung bei DD und Behandlung
- Konsil und/oder Beratung mit dem koordinierenden Arzt bzw. der koordinierenden Ärztin
Abrechnung Max. 2 x im Krankheitsfall (jährlich)

Weiterführende Literatur:

Informationen der KBV: https://www.kbv.de/html/1150_73128.php

Artikel mit Praxisbeispiel: https://www.medical-tribune.de/praxis-und-wirtschaft/artikel/koordinierte-versorgung-mit-basisassessment-und-fallkonferenzen-1

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